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Arundhati Roy (*)
zum 11. September 001

Wut ist der Schlüssel

Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: "Selten zeigen sich Gut und Böse so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es voller Verachtung und Schadenfreude getan." Dann brach der Mann in Tränen aus.

Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die es nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam und peinlicher Rhetorik, eine "internationale Allianz gegen den Terror" zusammengeschustert, die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen. Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurückkehren können, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Wenn es den Feind nicht findet, wird es, der aufgebrachten Bevölkerung daheim zuliebe, einen Feind konstruieren müssen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem Blick verlieren, warum er überhaupt geführt wird.

Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen. Nun, da Amerika sich selbst verteidigen muß, sehen die schnittigen Kriegsschiffe, die Cruise Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig aus. A,merikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschrekkung. Teppichklingen, Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen Jahrhunderts geführt werden. Wut ist der Schlüssel. Ihn bekommt man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.

Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongreß bezeichnete Präsident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Bürger Amerikas fragen, warum sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere Freiheiten - unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu wählen, uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein." Zweierlei wird uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, daß der Feind der ist, der von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, daß die Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl es auch dafür keine Beweise gibt.

Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen muß die amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt werden, daß Freiheit und Demokratie und der American way of life bedroht sind. In der gegenwärtigen Atmosphäre von Trauer, Empörung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln. Wenn das tatsächlich stimmt, stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschläge den Symbolen der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas galten. Warum nicht der Freiheitsstatue? Könnte es sein, daß die finstere Wut, die zu den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, daß amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstützt haben - militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (außerhalb Amerikas)?

Für die trauernden Amerikaner ist es gewiß schwer, mit Tränen in den Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht als Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit. Es ist eine Ahnung, ein Nicht-Überraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis, daß jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, daß der Haß nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich entgangen sein, daß ihre außergewöhnlichen Musiker, ihre Schriftsteller, Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler und ihre Filme überall auf der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Würde der Feuerwehrleute, der Rettungskräfte und der gewöhnlichen Büroangestellten in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen.

Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk, von den Amerikanern zu erwarten, daß sie ihren Schmerz relativieren oder mäßigen. Aber es wäre schade, wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11. September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten Welt beanspruchten und nur die eigenen Toten rächen wollten. Denn dann wäre es an uns, unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man uns tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen. Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muß, sollte rasch gesagt werden.

Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror" übernimmt, bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner nachgerade göttlichen Mission - der ursprüngliche Name der Operation lautete "Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein paar Dinge geklärt werden. Führt Amerika Krieg gegen den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird gerächt? Der tragische Verlust von fast siebentausend Menschenleben, die Vernichtung von vierhundertfünfzigtausend Quadratmetern Bürofläche in Manhattan, die Zerstörung eines Flügels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Börse? Oder geht es um mehr?

Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin der Vereinigten Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, daß 500 000 irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien, sprach sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem, nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind übrigens noch immer in Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen "Ermordung unschuldiger Menschen" oder "Krieg der Kulturen" und "Kollateralschäden". Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für einen toten Investmentbanker?

Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring um Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten Länder der Welt, dessen Taliban-Regierung Usama Bin Ladin Unterschlupf gewährt. Das einzige, was in Afghanistan überhaupt noch zerstört werden könnte, sind die Menschen. (Darunter eine halbe Million verkrüppelte Waisenkinder. Es wird berichtet, daß es zu wildem Gedrängel der Humpelnden kommt, wenn über entlegenen, unzugänglichen Dörfern Prothesen abgeworfen werden.) Die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen sind Massengräber geworden. Das Land ist übersät mit Landminen - nach jüngsten Schätzungen zehn Millionen. Eine Million Menschen sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr, Hilfsorganisationen mußten das Land verlassen, und nach Berichten der BBC steht eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit bevor.

An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt war, den afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische Element so weit zu stärken, daß sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren Nwürden. Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre rekrutierte und unterstützte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus vierzig islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese Leute wußten nicht, daß sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten. (Welche Ironie, daß die Amerikaner ebensowenig wußten, daß sie ihre späteren Feinde finanzierten!)

Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück und hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in Afghanistan tobte' weiter. Der Dschihad griff über nach Tschetschenien, in das Kosovo und schließlich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen, doch die laufenden Kosten waren so enorm, daß immer mehr Geld benötigt wurde. Auf Befehl der Mudschahedin mußten die Bauern Opium (als "Revolutionssteuer") anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei Jahre nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch- afghanistanische Grenzgebiet der weltweit größte Heroinproduzent geworden. Die jährlichen Gewinne, zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen zurück in die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.

Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen erstes Opfer die eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, daß sich das Regime durch Kriegsdrohungen einschüchtern ließe oder einlenken wird, um die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Kann es nach allem, was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als daß Rußland und Amerika mit vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstören?

Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt, die kein Interesse an demokratischen Verhältnissen im Land hatten. Vor dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für Opium. Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der Heroinsüchtigen von Null auf anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen afghanische Flüchtlinge. Die pakistanische Wirtschaft liegt darnieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Madrasas und Ausbildungslager für Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum Kampf gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen Rückhalt haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren unterstützt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und strategische Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische Regierung, den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang großgezogen hat, abzustechen. Präsident Musharraf, der den Amerikanern Unterstützung versprochen hat, könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen Situation konfrontiert sehen.

Indien kann von Glück reden, daß es, dank seiner geographischen Lage und der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game hineingezogen wurde. Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung die Amerikaner inständig darum bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen Wirtschaft und einem unruhigen sozialen Fundament müßte wissen, daß eine Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die Amerikaner für länger bleiben oder nur kurz vorbeischauen wollen) fast so ist, als würde ein Autofahrer darum bitten, ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen.

In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des amerikanischen Engagements in Afghanistan zu verlieren. Für all jene, die von diesen Dingen nichts wissen, hätte die Berichterstattung über die Anschläge informativ und aufrüttelnd sein können, wenn Zyniker sie vielleicht auch übertrieben gefunden hätten. Für uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans kennen, sind die amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der "internationalen Allianz gegen den Terror" einfach eine Beleidigung. Amerikas "freie Presse" ist dafür genauso verantwortlich wie der "freie Markt".

Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischer Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen Welt erzeugen, und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, daß sie in einem Klima schrecklicher Ungewißheit leben werden. Schon warnt CNN vor der Möglichkeit eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen Sprühflugzeugen geführt werden kann.

Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, werden die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere Bürgerrechte einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religiöse Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel Geld in die Militärindustrie zu stecken. Und wozu? Präsident Bush kann die Welt ebensowenig "von Übeltätern befreien", wie er sie mit Heiligen bevölkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrückung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit. Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen, genau ,wie die Multis, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten mit ihren "Fabriken" von Land zu Land.

Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber Einhalt gebieten, muß Amerika zunächst einmal erkennen, daß es nicht allein auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und trauern und Geschichten und Lieder und Kummer haben und weiß Gott auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde, was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg bezeichnen würde, meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen könne, daß es den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem way of life festzuhalten.

Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Usama Bin Ladin stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen.

Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die 200 000 Iraker, die bei der Operation Wüstensturm starben, die Tausenden Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen, die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nikaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Für ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war, hat Amerika Naußerordentlich viel Glück gehabt. Die Anschläge vom 11. September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem Territorium innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafür endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute wartet die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.

Unlängst sagte jemand, daß, wenn es Usama Bin Ladin nicht gäbe, die Amerikaner ihn erfinden müßten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsächlich erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979 nach Afghanistan gingen, als die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch aus, daß er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird. Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen zum Hauptverdächtigen, und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, "tot oder lebendig" haben.

Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte es durchaus möglich sein, daß er die Anschläge nicht persönlich geplant hat und an der Ausführung auch nicht beteiligt war - daß er vielmehr der führende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewöhnlich realistisch: Legt Beweise vor, dann händigen wir ihn euch aus. Präsident Bush erklärte seine Forderung für nicht verhandelbar. (Da gerade über die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird - dürfte Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortlich für die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend Menschen umkamen. Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen, alle Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)

Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren: Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken.

Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen haben sich eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die amerikanischen Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA geliefert. Das Heroin, das von amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet wird, stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush ließ der afghanischen Regierung unlängst 43 Millionen Dollar zur Drogenbekämpfung zukommen.) Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefährlich bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispikkel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, daß der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.

Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt - "Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen" - offenbart eine unglaubliche Arroganz. Kein Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjährige Arundhati Roy ist die literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in ihrem Land berichtet. Roy ist längst die berühmteste und erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Ländern gilt sie als wichtigste Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt in Konflikt mit den indischen Behörden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste gegen die indische Atomwaffenpolitik. In ihren politischen Schriften artikuliert sich das radikale Bewußtsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in Indien, sondern auch in Pakistan die sozialen Konflikte primär als Folgen der Globalisierung, also als Ergebnisse "westlicher" Politik interpretiert. Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomgürtel Pa7cistan/Indien viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die Kultur der Globalisierung. Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es werde sich eine moralisch empörte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getäuscht. Im Gegenteil: der Haß wächst. Und Indien hat sich immer noch nicht erklärt, inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Wir haben Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das so ist. Ihr Text, der angesichts der fortlaufenden Ereignisse die ursprünglich vereinbarte Länge weit überschreitet, beweist, allen Besänftigungsformeln zum Trotz, daß der gegenwärtige Konflikt in den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde als Krieg der Kulturen verstanden wird.

F.A.Z.


(*) ARUNDHATI ROY wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala in einer Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen. Heute lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman "Der Gott der kleinen Dinge" (Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen Behörden zensierten das Buch aus "moraiuschen" Gründen: Roy beschrieb die verbotene Liebe zu einem Unberührbaren. Als politische Aktivistin hat sie sich mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch zur repräsentativen Stimme macht, ist die Tatsache, daß sie die Globalisierung wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufügt, zu erleben scheint, "In Indien", so hat sie einmal erklärt, "erlebe ich das entsetzliche Schuldgefühl privilegiert zu sein"...

siehe im GIB-Archiv:

  • Essay von Arundhati Roy: Krieg ist Frieden
  • Nato - Gladio - Geheimdienste - Informationskrieg

    Überblick zur aktuellen Lage...

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