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[globaler aktionstag]

http://www.frankfurter-rundschau.de/fr/231/t231013.htm

Entdecke die Möglichkeiten!

Das Internet nach dem Gipfel von Seattle:
Ein Netz des Widerstands

Von Jürgen Ziemer

Seattle, 30. November 1999: 50 000 Menschen verhindern einen Tag lang die Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO. Eine wild zusammengewürfelte Armee aus Althippies, Umweltschützern, religiösen Gruppen, Pazifisten und Anarchisten zieht durch die Metropole im amerikanischen Nordwesten: Blockiert Straßen und Gebäude, singt "Hey Ho, Hey Ho, WTO has got to go", spielt Theater, tanzt. Gegen 17 Uhr verhängt der Bürgermeister den Ausnahmezustand und alarmiert die Nationalgarde - Seattle steht unter Kriegsrecht. Doch die Demonstranten wissen, dass sie einen Sieg errungen haben. Einen Sieg über "die WTO, jene 1995 gegründete geheimbündlerische Vereinigung von Freihandelsadvokaten und Konzernen, die wegen ihrer schamlosen Missachtung sämtlicher Gesellschaftsverträge ein perfektes Ziel für den globalen Volkszorn abgibt" - so die Süddeutsche Zeitung.

Das Scheitern der WTO-Konferenz ist mehr als das Ergebnis einer machtvollen Demonstration gegen den Wirtschaftsliberalismus: Der 30. November ist ein neuer Feiertag im Onlinekalender. Denn das Bündnis völlig disparater Organisationen und Aktivisten ist durch das Internet entstanden. Monatelang haben dutzende von Websites den Protest vorbereitet: "May our resistance be as transnational as capital - Möge unser Widerstand so grenzübergreifend sein wie das Kapital", heißt es auf der Homepage "n30", einem Kürzel für den 30. November (http://www.seattlewto.org/n30/). Dazu findet man in zehn verschiedene Sprachen übersetzte Aufrufe, Diskussionsbeiträge und Unmengen von Links zu anderen Gruppen. Zum Beispiel zur Ruckus Society (http://www.ruckus.org), einem Verbund junger hauptberuflicher Umweltaktivisten aus dem kalifornischen Berkeley, die schon seit Jahren Ausbildungsseminare für gewaltlosen Widerstand organisieren. Anmeldeformulare für die sogenannten "Action Camps" gibt es auf der Homepage - mitmachen kann jeder. In Seattle sorgte die Ruckus Society außerdem mit einem "Direct Action Network" für eine im zivilen Ungehorsam noch nicht erlebte mediale Offensive: Videofilmer und Fotografen dokumentierten polizeiliche Übergriffe. Computerfreaks belieferten die Welt per Internet mit Liveübertragungen. Der Schlachtruf amerikanischer Studenten aus den Sixties "The whole world is watching!" bekam so eine neue Bedeutung.

Doch die Vernetzung linker oppositioneller Gruppen per Internet war auch vor Seattle schon erfolgreich: Am 18. Juni 1999 ereigneten sich überall auf der Welt fast zeitgleich Aktionen, bei denen zwar einiges zu Bruch ging, aber niemand ernsthaft zu Schaden kam. In der Londoner Innenstadt verursachten 500 Fahrradfahrer ein Verkehrschaos; andere Demonstranten verwüsteten derweil zwei Banken, eine McDonalds-Filiale und eine Mercedes-Niederlassung - Gesamtschaden: 2 Millionen Pfund.

Zur gleichen Zeit brachte in Tel Aviv ein nicht angemeldetes Straßenfest den Verkehr zum Erliegen. Und in der nigerianischen Stadt Port Harcourt blockierten 10 000 Menschen die Niederlassungen der Ölkonzerne Shell und Agip. Ähnliche Aktionen gab es an diesem Tag auch in Italien, Pakistan, Australien und den USA. Und in Köln versuchten die Teilnehmer einer "Interkontinentalen Karawane" den Finanzministern der G8-Länder eine Petition für eine Entschuldung der ärmsten Drittweltländer zu überreichen. Die Polizei verhinderte allerdings ein Vordringen der Karawane in die City und verhaftete die Sprecher der Gruppe. Der 18. Juni 1999 ist seitdem auch bekannt als J18, der Tag an dem die unterschiedlichsten globalen Protestbewegungen in einer simultanen Präsentation ihre Stärke bewiesen. Es sollte gezeigt werden, wie sehr die Theorie des freien Marktes mit der Lebenswirklichkeit Tausender unterschiedlicher Gruppen kollidiert. Auch diese gigantische dezentrale Protestaktion wurde koordiniert über das Internet, getreu dem alten Slogan: "Think Globally, Act Locally".

Die Mobilisierung gigantischer Menschenmengen ist bei den neuen Online-Protest-Formen nicht unbedingt notwendig. Meist geht es um Öffentlichkeit, um mediale Aufmerksamkeit. Im Guten, wie im Schlechten: 1994 entschloss sich eine Gruppe mexikanischer Dissidenten, Zapatistas, zum bewaffneten Kampf gegen die mexikanische Regierung. Neben ihren AK-47 Waffen trugen die Guerilleros Laptops bei sich, mit denen sie ihre Stellungnahmen per Fax aus dem Dschungel in die Welt schickten. Es gab sogar eine Website, auf der die Zapatistas ihre Seite der Auseinandersetzungen in Worten und Bildern darstellten. Die Wahrheit hatte plötzlich zwei Seiten: Die Verlautbarungen der Regierung konnten hinterfragt werden, ein Informationsmonopol existierte nicht mehr.

In England nutzten die "Consumer-Terrorists" von "Decadent Action " (http://www.underbelly.demon.co.uk/decadent/) das Internet, um einen "Call In Sick Day" auszurufen, einen "Melde-dich-krank-Tag", eine Art "wilder" Streik, der Unzufriedenheit demonstrieren sollte. Normale Streiks und Demonstrationen sind den "Spaß-Guerilleros" zu langweilig und uneffektiv: "Für eine Aktionsgruppe ist es wichtig, zuerst das Interesse der Medien zu wecken", sagt Mr. H, ein Sprecher der Decadent Action über ihre Aktionen. "Massenproteste sind nicht das wichtigste. Wenn du eine gute Idee hast und ein sehr gutes Marketing, dann kann man mit drei oder vier Leuten und einem Computer genauso viel bewegen wie mit 50 000 Menschen am Trafalgar Square".

Auch in Deutschland haben die Linken inzwischen angefangen, das Internet zu entdecken. Selbst autonome Gruppen nutzen die Möglichkeit einer Selbstdarstellung: http://www.antifa.de etwa ist eine überraschend professionell aufgemachte und ansprechend gestaltete Seite mit den üblichen Themen, Aufrufen und Appellen. Etwas interessanter ist die Homepage des "Gegen Informations Büros" (http://gib.squat.net/home.html). Der "Infopool" bietet einen linksradikalen Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten; es gibt aber auch Spendensammlungen für Gefangene der Revolutionären Zellen und einen Link zu dem umfangreichen und sehr interessanten Archiv von Nadir.org . Würde derart brisanter Stoff in einem Buchladen ausliegen - der Ärger wäre programmiert. Doch im Web geht Meinungsvielfalt über Bedenken der Staatsschützer.

Trotzdem scheint die deutsche Linke im Umgang mit dem Internet insgesamt noch etwas zurückhaltend. Im Gegensatz zu den USA, Skandinavien oder den Niederlanden, wo linksalternative Gruppen schon seit Jahren das Netz als Kommunikations- und Informationsmedium nutzen, gibt es hierzulande so etwas wie einen Generalverdacht gegen Computer und vor allem Computernetzwerke: Das Internet gilt unter den Genossen offenbar noch immer als Überwachungsmaschine oder verdummender TV-Ersatz. Dabei zeigen Pioniere wie der Chaos Computer Club doch schon seit Jahrzehnten, wie sich Angst und Faszination durch Aufklärung meistern lassen. Die verlorenen Kämpfe gegen Volkszählung und "Computerstaat" sind aber in manchen Köpfen noch immer präsent.

Spätestens zur Expo 2000 sind unter Deutschlands Linken neue Strategien gefragt. Denn unter den globalen Anhängern direkter Aktionen gilt die Eröffnung der Weltausstellung in Hannover als willkommener Anlaß für einen weltweiten Aktionstag gegen den Wirtschaftsliberalismus. Kurz gesagt: Das nächste Seattle könnte in Hannover stattfinden.

[ dokument info ]
Frankfurter Rundschau 2000
Erscheinungsdatum 05.02.2000
http://gib.squat.net/
http://www.hammerhart.de/bambule/kg.html

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