junge Welt 21.06.1999

Interview

Wie haben die NATO-Bomben Jugoslawiens Umwelt verseucht?

jW sprach mit Ulf Müller, Teilnehmer am Hilfskonvoi nach Jugoslawien
(von der »Initiative Frieden jetzt - Chemnitz«)

  

F: Als Sie sich mit dem Hilfskonvoi der Initiative »Frieden jetzt - Chemnitz« in Jugoslawien aufhielten, führten Sie auch ein Gespräch mit dem Technischen Direktor der »HIPO PetroHemija Pancevo«. Was war der Anlaß?

Dieses Gespräch fand auf Bitte des Direktors der Chemiefabrik in Pancevo statt, da aufgrund des Bombardements der Fabrik nicht absehbare Folgeschäden für Menschen und Umwelt entstanden, die aber bislang in der Öffentlichkeit so nicht zur Kenntnis genommen werden.

  

F: Was ist die Fabrik »HIP PetroHemija Pancevo«?

Diese Fabrik war eines der modernsten und größten petrochemischen Werke auf dem Balkan. Ihr ältester Betriebsteil wurde vor 20 Jahren gebaut, die zwei neuen Teilwerke entstanden vor etwa zwei Jahren nach amerikanischem und europäischen Standard. In ihm waren vor der Bombardierung etwa 3 000 Menschen beschäftigt, über die Hälfte der Produktion ging in den Export, weshalb die »HIP PetroHemia Pancevo« auch zu den wenigen jugoslawischen Firmen gehörte, die schwarze Zahlen schrieben. Ihre Produktpalette reicht von PVC-Erzeugnissen über Granulate bis hin zu Halbstoffen für die chemische Industrie. Auf keinen Fall gehörte sie zu den Militärzulieferern.

  

F: Gab es im Werk dennoch Vorkehrungen für den Fall der Luftangriffe?

Die einzige Vorkehrung, die überhaupt möglich war, traf der Direktor: Aufgrund der Gefährlichkeit der Stoffe, die sich zu Produktionszwecken auf dem Gelände der Fabrik befanden, erstellte er eine umfangreiche Liste, die durch einen genauen Lageplan mit den Standorten der gefährlichsten Tanks ergänzt wurde. Beides verschickte er mit Kriegsbeginn an die Regierungen der westeuropäischen Länder sowie an die NATO.

  

F: Mit welcher Reaktion?

Die Reaktion darauf erfolgte in NATO-Manier am 15. April um 22.40 Uhr in Form des ersten Luftangriffes auf die Chemiefabrik. Getroffen wurden genau diese Tanks, die der Direktor bei Kriegsbeginn als besonders gefährlich im Lageplan skizziert und eigentlich mit dem Ziel versandt hatte, eine Umweltkatastrophe zu verhindern. Das Bombardement traf den Betrieb in laufender Produktion, da nach Versendung der Schreiben keiner mit so einem Angriff gerechnet hatte. Die Bombardierung der Tanks hatte zusätzlich viele sekundäre Explosionen ausgelöst. In Folge des Angriffs waren hochgefährliche Chemikalien ausgetreten und die gesamte betriebliche Elektroversorgung zusammengebrochen, so daß die Produktion unkontrolliert zum Stillstand kam.

  

F: Wie begegnete die Betriebsleitung dieser Situation?

Zum einen versuchte sie, die getroffenen Tanks so gut wie möglich zu entleeren und in Kesselwagen umzufüllen, um sie dann vom Betriebsgelände zu entfernen. Das war allerdings kaum möglich, da die Eisenbahnlinien zur Chemiefabrik durch Bombenangriffe bereits unterbrochen waren. Aus diesem Grund setzte der Direktor gleich am 16. April ein zweites Schreiben auf, in dem er über die schleppende Entsorgung der bombardierten Tanks, über den Austritt hochgefährlicher Stoffe sowie zu erwartende Umweltschäden berichtete. Dieses Schreiben versandte er an über 1 000 Stellen, angefangen von den europäischen Regierungen, über Parteien, Umweltverbände, Wissenschaftler bis hin zur NATO.

  

F: Was passierte dann?

Daraufhin erfolgte postwendend am 18. April nachts 1.10 Uhr der zweite Luftangriff, in dessen Ergebnis auch noch die restlichen intakten Tanks mit Chemikalien bombardiert wurden. Als Folge traten große Mengen Schadstoffe unkontrolliert in die Luft aus, versickerten im Boden und flossen auch in die in unmittelbarer Nähe befindliche Donau, die tagelang von einem Teppich toter Fische bedeckt war. Den Witterungsumständen ist es zu verdanken, daß die Giftwolken nicht direkt über der 80 000-Einwohner-Stadt Pancevo und dem nur 17 Kilometer entfernten Belgrad mit zwei Millionen Einwohnern niedergingen. Außerdem wurde Pancevo so gut es ging evakuiert. Betroffen von den Giftwolken waren aber große Felder. Und ausgetreten sind immerhin etwa zehntausend Tonnen Chemikalien.

  

F: Eine Tatsache, die ja immerhin die UNO alarmierte.

Das stimmt. Etwa 14 Tage vor unserer Ankunft hielt sich eine UN-Delegation in Pancevo auf, mit dabei der UN-Bevollmächtigte für Umweltfragen, der Sudanese Bakary Kante. Diese Delegation zeigte sich zutiefst erschüttert über das Ausmaß der durch die Bombardements verursachten Schäden und sprach sogar von der größten Chemiekatastrophe der Menschheit, die nicht einmal mit den von Bhopal zu vergleichen sei, wo es immerhin 3 000 Tote in der ersten Nacht und 10 000 Tote in weiteren sechs Jahren gab.

F: Können Sie einige der gefährlichsten ausgetretenen Chemikalien und deren Folgeschäden benennen?

Konkrete Aufschlüsselungen fehlen natürlich, weil eine Analyse unter den Kriegsbedingungen nicht möglich war, jedoch gibt es einige Eckdaten, die schon für sich gesehen schockieren: Gut die Hälfte der ausgetretenen 10 000 Tonnen Chemikalien gehören zu Chlorverbindungen, die fast alle giftig sind. Besonders erschreckend ist die Tatsache, daß bei der Bombardierung große Teile Vinylchlorid verbrannten, wodurch Dioxin und Phosgen entstehen kann. Dioxin und Phosgen sind krebserregend, erbgutschädigend und in hohem Maße toxisch. Dioxin schädigt das Nerven- und Atmungssystem und ruft Leberschäden hervor. Tritt Vinylchlorid in den Boden oder in Wasser ein, wie in Pancevo geschehen, kann es besonders schwer abgebaut werden. Seine Halbwertzeit beträgt über zehn Jahre, wobei selbst die Abbauprodukte immer noch erbgutschädigend sind. Beim bisher bekanntesten Dioxinunfall in Veso traten zwei Kilo aus, die zu einer Verseuchung von 1 800 Hektar Land führten. Wieviel Dioxin bei der Verbrennung der 10 000 Tonnen ausgetretener Chemikalien in Pancevo entstand, bleibt offen. Die Liste ausgetretener Stoffe ist lang. Um nur noch zwei zu nennen: Zum einen kam es bei der Verbrennung des Öls aus der Trafostation zum Auswurf hoher chlorierter Kohlenwasserstoffe, die an sich schon schädigend sind und deren schädigende Wirkung sich durch die Verbrennung noch erhöht. Zum anderen befand sich Quecksilber als Katalysator im Produktionsprozeß, das normalerweise den Kreislauf nicht verläßt. Beim Bombardement jedoch wurde das Lager mit 100 Tonnen Quecksilber getroffen. Ein Teil davon trat aus. Und zu Quecksilber braucht man wohl nichts zu sagen ...

 

F: Sind bei den Menschen, die vor Ort leben, bereits Umwelt- und Gesundheitsschäden zu registrieren?

Ich selbst litt während unseres gesamten Aufenthaltes unter Kopfschmerzen, brennenden Augen und ausgetrocknetem Hals. Solche Auffälligkeiten bestätigten uns auch Menschen in Pancevo und Belgrad. Viele berichteten auch vom Phänomen, daß alles, was in voller Blüte stand, ob Bäume oder die anstehende Ernte, mit einem Mal verwelkte und wie im Herbst verdorrte, regelrecht zusammenknorkelte.

F: Was passiert mit der zerstörten Fabrik?

Dort gibt es nur noch 100 Beschäftigte, die versuchen, die Anlage vorm weiteren Austritt von Chemiekalien zu sichern. Das Schockierendste für mich ist die Erkenntnis, mit welcher Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit nicht nur die gesamte Industrie, egal ob Militärlieferant oder nicht, sondern auch die gesamte Umwelt, also das Lebensumfeld von Menschen zerbombt wurde. Wäre es bloß ums Ausschalten von Produktion gegangen, hätte es in Pancevo beispielsweise gereicht, die Eisenbahnlinie zur HIP stillzulegen oder bestimmte noralgische Punkte wie im Belgrader Heizkraftwerk die Trafostation. Bombardiert wurden aber die Öltanks von Belgrad ebenso wie die Raffinerie von Pancevo, deren Brände mehrere Tage nicht gelöscht werden konnten. Dies zeigt, daß es um die nackte Zerstörung von Industrie und Lebensraum ging. Und nach den unzähligen Toten durch die Bombardements sind Folgetote durch Gesundheits- und Umweltschäden vorprogrammiert. Für die jugoslawische Bevölkerung geht der Krieg weiter. Denn wenn die wenigen Vorräte aufgebraucht sind, von denen man im Moment noch zehrt, werden Menschen in Jugoslawien verhungern, erfrieren, verdursten oder an schleichender Vergiftung zu Grunde gehen. Dieser Zustand, der jetzt als Frieden bezeichnet wird, ist faktisch keiner. Der heiße Krieg ist momentan nur in eine etwas kühlere Phase übergegangen.

Interview: Annett Schwarz, Chemnitz
 
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