[Ein Tribunal klagt an]

From: Klaus von Raussendorff
Date: Sat, 06 Nov 1999 21:28:53

Liebe Leute,

der Rechtsanwalt Dr. Heinz-Jürgen Schneider, Hamburg, hat sich wegen Kriegsverbrechen der NATO an der jugoslawischen Bevölkerung mit einer Eingabe an den Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien (ICTY) gewandt. In seinem nachstehenden (nicht vorgetragenen) Beitrag zum Europäischen Hearing für ein Internationales Tribunal über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien (Berlin, 30.10.1999) berichtet er darüber.

Informationen über vier verschiedene ähnliche Eingaben von Juristen aus Großbritannien, Griechenland, Kanada und Norwegen wegen Verletzung des humanitären Völkerrechts durch die NATO findet Ihr im Netz unter:

The Movement for the Advancement of International Criminal Law (MAICL)
http://ban.joh.cam.ac.uk/~maicl/index.htm
The complaint of Mr. Alexander Lykourezos, of Athens, Greece
http://www.nato-warcrimes.gr/
The complaint of Professor Michael Mandel, York University, Toronto, Canada
http://www.jurist.law.pitt.edu/icty.htm
The case launched by The Balkan Charter organisation, from Norway.
http://www.balkan.cc/EnIndex.htm
Mit antiimperialistischen Grüßen
Anti-Imperialistische Korrespondenz (AIK)
Redaktion: Klaus von Raussendorff
Postfach 210172, 53156 Bonn
Tel.&Fax: 0228 – 34.68.50
Email: aik-web@t-online.de

Anti-Imperialistische Online-Korrespondenz
Webmaster: Dieter Vogel
http://home.t-online.de/home/aik-web/
Anlage
Dr. Heinz-Jürgen Schneider 22769Hamburg.GlücksburgerStr.8
Tel./Fax (040)8513116.email rechtsanwalt-schneider@gmx.de

Beitrag zum Europäischen Hearing zu einem Internationalen Tribunal über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien

Berlin 30.10.1999.

Im Juni 1999 habe ich mich mit eine Anzeige von Kriegsverbrechen gegenüber der jugoslawischen Zivilbevölkerung an den Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien (ICTY) gewandt. In dem Schreiben werden konkrete Fälle geschildert und Ermittlungen gegen namentlich benannte Politiker und Militärs der kriegführenden NATO-Staaten verlangt. In der Anzeige heißt es auch: "Einseitige Ermittlungen und Anklagen, politische Rücksichtnahmen oder die generelle Nichtuntersuchung der Kriegführung der NATO ...würde die Legitimität der Arbeit des Gerichtshofes vollständig aufheben".

Im Oktober habe ich in Den Haag nachgefragt, was aus meiner und ähnlichen Anzeigen geworden ist und ob überhaupt gegen NATO-Verantwortliche Untersuchungen laufen. Die Antwort aus dem Büro der Chefanklägerin kam promt, blieb aber nichtssagend. Es gäbe keinen Kommentar, ob etwas Gegenstand von Untersuchungen sei, es würde viele solcher Aufforderungen geben, Den Haag müsse unabhängig entscheiden.

Die Monate nach dem Ende des Krieges ermöglichen – gestützt auf Medieninformationen und andere Quellen – das zu tun, was die Staatsanwaltschaft des Gerichtshofes unternehmen müßte: Zu prüfen, ob die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen und die Rechtswidrigkeit eines Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht vorliegen und gegebenenfalls Anklagen zu erheben.

Die NATO flog während des Krieges 38000 Einsätze, 10000 davon mit Bomben und Raketen gegen Bodenziele in der BR Jugoslawien. Diese Zahlen nannte General a.D. Klaus Naumann, bis Mai Vorsitzender des Militärausschusses in einem Vortrag (Hamburger Abendblatt vom 27.8.99). Diesen Zahlen der Täter entsprechen die Zahlen der Opfer. 700 tote und 6400 verletzte Zivilisten benannte das jugoslawische Rote Kreuz bereits Mitte Mai während des noch laufenden Krieges einer vom stellvertretenden Generalsekretär für humanitäre Fragen der UNO geleiteten Delegation, die sich vor Ort aufhielt (Le Monde Diplomatique Juli 1999).

Das in großer Zahl und nicht nur in Einzelfällen jugoslawischen Zivilpersonen von  NATO- Waffen getötet wurden, steht außer Zweifel und wird von den Beschuldigten auch nicht bestritten.

Diese Tötungen stellen schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dar, zu dessen Einhaltung das Internationale Rote Kreuz alle Kriegsparteien im April aufgerufen hatte. (TAZ vom 13.8.1999)

Die maßgeblichen Bestimmungen aus dem Genfer Abkommen und seinen Zusatzprotokollen sollen noch einmal genannt werden Nach der Grundregel haben die Kriegsparteien nach Art. 35 (Zusatzprotokoll I von 1977) "kein uneingeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung". Nach Art. 48 dürfen sich Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten, es muß "jederzeit ...zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen" unterschieden werden.

Art. 51 Abs. 4 verbietet "unterschiedslose Angriffe" bei denen "militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos" getroffen werden können. Nach Art. 57 Abs. 2 iii ist "von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, daß er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung...verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten...militärischen Vorteil stehen."

Zu solchen auch subjektiv gewollten oder mit bedingten Vorsitz billigend in Kauf genommenen schweren Verletzungen des "Völker-Kriegsrechts" ist es durch die NATO-Verantwortlichen  gekommen.

Menschenverachtung ist es hingegen, wenn General a.D. Naumann in einer Kriegsanalyse vor der Bundeswehr-Führungsakademie erklärt: "Wir haben keine Offensive zur Vernichtung des serbischen Volkes geflogen. Wir hätten Staudämme vernichten können! Wir hätten Bombenteppiche werfen können!" (HA vom 27.8.1999) Oder die Aussage des Luftwaffenkommandeurs Michael Short vor dem Verteidigungsausschuß des USA-Senats, er hätte massive Luftangriffe in der ersten Nacht des Krieges auf Belgrad favorisiert, um den "Dolch in das Herz der Führung" zu treiben. (FAZ vom 23.10.1999)  Dies ist entlarvend und  die Fortsetzung der psychologischen Kriegsführung aus den Pressekonferenzen im NATO-Hauptquartier von der die Worte "Kollateralschäden" und "Fehltreffer" unvergessen bleiben werden.

Die gewollten und militärtechnisch präzisen Angriffe mit Boden-Boden-Raketen auf die chinesische Botschaft oder das RTS-Fernsehzentrum in Belgrad, die Angriffe mit Luft-Boden-Raketen auf den Personenzug auf der Eisenbahnbrücke von Lescovac, auf den Flüchtlingskonvoi zwischen Prizren und Djakovica oder den Expressbus Pristina-Nis auf der Brücke von Luzane bedürfen keiner weiterer sachlicher Aufklärung. Hier sind nur noch die in der militärischen Kommandokette und politisch persönlich dafür als Kriegsverbrecher Verantwortlichen  zu ermitteln.

Darüberhinaus gibt es staatsanwaltschaftlichen und kriminalistischen Handlungsbedarf. Welches ICTY-Team vernimmt Überlebende und stellt den Abstand von militärischen Zielen und den Zielpunkten der Bomben in Surdulica und Nis fest? Welche Beweismittel werden zu der bekanntgewordenen Tatsache gesichert, daß bei NATO-internen Beratungen Deutschland und Griechenland gegen die Ausweitung der Luftangriffe auf nicht-militärische Zielen waren (ND vom 23.8.1999) und die übrigen Verantwortlichen offenbar dafür? Wann wird der NATO-Hauptmann Adolfo Luis Martin de la Hoz vernommen, der im Juli einer spanischen Zeitung mitteilte, es habe den Befehl zum Abwurf von Steubomben mit Anti-Personen-Minen auf die Stadt Nis gegeben? (JW vom 6.7.1999)?

Wir wollen die Verantwortlichen vor einem internationalen Gericht sehen. Auch um geplante kommende Kriege zu verhindern. Wir müssen das politische Kräfteverhältnis dafür ändern. Das geplante Tribunal und andere gleichartige Initiativen dienen dazu.

Die erst nach langer Zeit angelegte "Akte Pinochet" zeigt uns:
Nichts ist unmöglich. Nichts ist vergessen und niemand.

[Ein Tribunal klagt an]
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