Im Juni 1999 habe ich mich mit eine Anzeige
von Kriegsverbrechen gegenüber der jugoslawischen Zivilbevölkerung
an den Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien
(ICTY) gewandt. In dem Schreiben werden konkrete Fälle
geschildert und Ermittlungen gegen namentlich benannte Politiker und Militärs
der kriegführenden NATO-Staaten verlangt. In der Anzeige heißt
es auch: "Einseitige Ermittlungen und Anklagen, politische Rücksichtnahmen
oder die generelle Nichtuntersuchung der Kriegführung der NATO ...würde
die Legitimität der Arbeit des Gerichtshofes vollständig aufheben".
Im Oktober habe ich in Den Haag nachgefragt, was aus meiner und ähnlichen
Anzeigen geworden ist und ob überhaupt gegen NATO-Verantwortliche
Untersuchungen laufen. Die Antwort aus dem Büro der Chefanklägerin
kam promt, blieb aber nichtssagend. Es gäbe keinen Kommentar, ob etwas
Gegenstand von Untersuchungen sei, es würde viele solcher Aufforderungen
geben, Den Haag müsse unabhängig entscheiden.
Die Monate nach dem Ende des Krieges ermöglichen – gestützt auf
Medieninformationen und andere Quellen – das zu tun, was die Staatsanwaltschaft
des Gerichtshofes unternehmen müßte: Zu prüfen, ob die
objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen und die Rechtswidrigkeit
eines Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht vorliegen
und gegebenenfalls Anklagen zu erheben.
Die NATO flog während des Krieges 38000 Einsätze, 10000 davon
mit Bomben und Raketen gegen Bodenziele in der BR Jugoslawien. Diese Zahlen
nannte General a.D. Klaus Naumann, bis Mai Vorsitzender des Militärausschusses
in einem Vortrag (Hamburger Abendblatt vom 27.8.99).
Diesen Zahlen der Täter entsprechen die Zahlen der Opfer. 700 tote
und 6400 verletzte Zivilisten benannte das jugoslawische Rote Kreuz bereits
Mitte Mai während des noch laufenden Krieges einer vom stellvertretenden
Generalsekretär für humanitäre Fragen der UNO geleiteten
Delegation, die sich vor Ort aufhielt (Le Monde Diplomatique
Juli 1999).
Das in großer Zahl und nicht nur in Einzelfällen jugoslawischen
Zivilpersonen von NATO- Waffen getötet wurden, steht außer
Zweifel und wird von den Beschuldigten auch nicht bestritten.
Diese Tötungen stellen schwerwiegende Verstöße gegen das
humanitäre Völkerrecht dar, zu dessen Einhaltung das Internationale
Rote Kreuz alle Kriegsparteien im April aufgerufen hatte. (TAZ
vom 13.8.1999)
Die maßgeblichen Bestimmungen aus dem Genfer Abkommen und
seinen Zusatzprotokollen sollen noch einmal genannt werden Nach der Grundregel
haben die Kriegsparteien nach Art. 35 (Zusatzprotokoll I
von 1977) "kein uneingeschränktes Recht in der Wahl der Methoden
und Mittel der Kriegführung". Nach Art. 48 dürfen sich Kriegshandlungen
nur gegen militärische Ziele richten, es muß "jederzeit ...zwischen
zivilen Objekten und militärischen Zielen" unterschieden werden.
Art. 51 Abs. 4 verbietet "unterschiedslose Angriffe" bei denen "militärische
Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos" getroffen
werden können. Nach Art. 57 Abs. 2 iii ist "von jedem Angriff Abstand
zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, daß er auch Verluste unter
der Zivilbevölkerung...verursacht, die in keinem Verhältnis zum
erwarteten...militärischen Vorteil stehen."
Zu solchen auch subjektiv gewollten oder mit bedingten Vorsitz billigend
in Kauf genommenen schweren Verletzungen des "Völker-Kriegsrechts"
ist es durch die NATO-Verantwortlichen gekommen.
Menschenverachtung ist es hingegen, wenn General a.D. Naumann in einer
Kriegsanalyse vor der Bundeswehr-Führungsakademie erklärt: "Wir
haben keine Offensive zur Vernichtung des serbischen Volkes geflogen. Wir
hätten Staudämme vernichten können! Wir hätten Bombenteppiche
werfen können!" (HA vom 27.8.1999) Oder die Aussage
des Luftwaffenkommandeurs Michael Short vor dem Verteidigungsausschuß
des USA-Senats, er hätte massive Luftangriffe in der ersten Nacht
des Krieges auf Belgrad favorisiert, um den "Dolch in das Herz der Führung"
zu treiben. (FAZ vom 23.10.1999) Dies ist entlarvend
und die Fortsetzung der psychologischen Kriegsführung aus den
Pressekonferenzen im NATO-Hauptquartier von der die Worte "Kollateralschäden"
und "Fehltreffer" unvergessen bleiben werden.
Die gewollten und militärtechnisch präzisen Angriffe mit Boden-Boden-Raketen
auf die chinesische Botschaft oder das RTS-Fernsehzentrum in Belgrad, die
Angriffe mit Luft-Boden-Raketen auf den Personenzug auf der Eisenbahnbrücke
von Lescovac, auf den Flüchtlingskonvoi zwischen Prizren und Djakovica
oder den Expressbus Pristina-Nis auf der Brücke von Luzane bedürfen
keiner weiterer sachlicher Aufklärung. Hier sind nur noch die in der
militärischen Kommandokette und politisch persönlich dafür
als Kriegsverbrecher Verantwortlichen zu ermitteln.
Darüberhinaus gibt es staatsanwaltschaftlichen und kriminalistischen
Handlungsbedarf. Welches ICTY-Team vernimmt Überlebende und stellt
den Abstand von militärischen Zielen und den Zielpunkten der Bomben
in Surdulica und Nis fest? Welche Beweismittel werden zu der bekanntgewordenen
Tatsache gesichert, daß bei NATO-internen Beratungen Deutschland
und Griechenland gegen die Ausweitung der Luftangriffe auf nicht-militärische
Zielen waren (ND vom 23.8.1999) und die übrigen
Verantwortlichen offenbar dafür? Wann wird der NATO-Hauptmann Adolfo
Luis Martin de la Hoz vernommen, der im Juli einer spanischen Zeitung mitteilte,
es habe den Befehl zum Abwurf von Steubomben mit Anti-Personen-Minen auf
die Stadt Nis gegeben? (JW vom 6.7.1999)?
Wir wollen die Verantwortlichen vor einem internationalen Gericht sehen.
Auch um geplante kommende Kriege zu verhindern. Wir müssen das politische
Kräfteverhältnis dafür ändern. Das geplante Tribunal
und andere gleichartige Initiativen dienen dazu.
Die erst nach langer Zeit angelegte "Akte Pinochet" zeigt uns: