Anklage beim Internationalen Europäischen (inoffiziellen) Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien

II. Sachverhalt Kriegshandlungen

Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen:

Im Rahmen des Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawiens ist es zu einer Vielzahl von Waffeneinsätzen gekommen, die insbesondere durch Luftwaffenstreitkräfte geführt wurden. (22)

Am 24. März 1999 begann die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO) militärische Operationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit dem erklärten Ziel der Abschreckung von Menschenrechtsverletzungen in der serbischen Provinz Kosovo.

Die Operationen begannen um 20 Uhr. Bemannte Flugzeuge wurden von Beginn des Militäreinsatzes an verwendet, anfangs in Kombination mit seegestützten Marschflugkörpern (Cruise Missiles). Während der ersten Tage der militärischen Operationen waren die Angriffe weitgehend gegen das Luftverteidigungssystem der Bundesrepublik Jugoslawien gerichtet, darunter Flugabwehr-Raketenstellungen, Radar-, Kommando- und Leiteinrichtungen. Gegen Ende März griffen die NATO-Flugzeuge meist darüber hinausgehende militärische Ziele an, darunter Armee-Hauptquartiere, Munitionslager und Flugplätze. Da die jugoslawische Regierung sich jedoch weiterhin weigerte, den Forderungen der NATO zu entsprechen, wurde die Liste der Ziele auf Öl-Tanklager, Raffinerien (besonders in Novi Sad und Pancevo) und Regierungsgebäude erweitert. Mit dem 4. April 1999 wurden Kraftwerke und Verkehrsverbindungen, darunter Straßen, Tunnel, Brücken und Eisenbahnstrecken gezielt angegriffen, einschließlich solcher, die nicht innerhalb oder in der Nähe der Kosovo-Region gelegen sind. Mit dem 23. April 1999 wurden Angriffe gegen Fernsehstudios und Sender gerichtet. Die lange geplante Ausweitung der Angriffe auf die zivile Infrastruktur und zivile Objekte wird sowohl durch die Aussagen der NATO- Sprecher und von NATO-Regierungschefs einerseits wie auch in der Natur der in der Bundesrepublik Jugoslawien angegriffenen Örtlichkeiten belegt.

Am 20. April 1999 erklärte Tony Blair, Premierminister des Vereinigten Königreichs, in einer Pressekonferenz im NATO-Hauptquartier in Brüssel: »Ich denke, es ist äußerst wichtig, daß alle von uns alles in unserer Macht Stehende tun, um sicher zu gehen, daß die wirtschaftlichen Maßnahmen, die wir gegen Serbien ergreifen, wirksam sind, und unsere Angriffe haben natürlich den Verkehrsverbindungen, den Versorgungswegen, den Ölraffinerien und der Ölversorgung des Milosevic-Regimes unermeßlichen Schaden zugefügt.«

George Robertson, britischer Verteidigungsminister, erklärte: »Zu Beginn der Luftkampagne stimmten die NATO-Minister gemeinsam bestimmten Kategorien von Zielen zu - das erste darunter war selbstverständlich die jugoslawische Luftverteidigung. Anschließend kamen wir überein, den Umfang der Ziele auf strategische Schwerpunkte wie Brücken, Kasernen und Hauptquartiere zu erweitern.« (23)

Dr. James Shea, Sprecher der NATO und Stellvertretender Direktor für Information und Presse, gab kurz danach ähnliche Erklärungen zu Angriffen auf wirtschaftliche Ziel und auf Kommunikationseinrichtungen ab. Am 21. April 1999 erklärte Dr. Shea, ebenfalls im NATO- Hauptquartier in Brüssel: »Jeder Aspekt der Machtstruktur wird von der NATO als ein legitimes Ziel angesehen, die Machtstruktur, und natürlich wird es in einer diktatorischen Gesellschaft zunehmend schwieriger, zwischen der Partei und dem Staat zu unterscheiden, wie wir alle wissen, sie verschmelzen miteinander, und dies ist auch die Parteizentrale, welche auch die Propaganda der herrschenden sozialistischen Partei beinhaltet, und das reicht für uns aus, dies als ein vollkommen legitimes Angriffsziel zu betrachten.«

Eine weitere Steigerung in der NATO-Kampagne bildet die Nacht des 2. Mai 1999, als fünf Hauptkraftwerke bombardiert und dadurch etwa 70 Prozent der jugoslawischen Bevölkerung von der Stromversorgung abgeschnitten wurden.

Dazu erklärte NATO-Sprecher James Shea: »Die Tatsache, daß die Lichter in 70 Prozent des Landes ausgingen, zeigt, denke ich, daß die NATO jetzt in Jugoslawien ihre Finger am Lichtschalter hat, und daß wir den Strom abstellen können, wann immer wir müssen, wo immer wir wollen.« (Pressekonferenz im NATO-Hauptquartier Brüssel am 3. Mai 1999) Dieses Eingeständnis, daß zivile Ziele von der NATO vorsätzlich angegriffen worden sind, wurde vom NATO-Luftwaffenbefehlshaber, Generalleutnant Michael C. Short, in einem Interview mit The New York Times vom 13. Mai 1999 sogar noch ausdrücklicher formuliert: »Ich denke, kein Strom für deinen Eisschrank, kein Gas für deinen Herd, du kommst nicht zur Arbeit, weil die Brücke weg ist - die Brücke, auf der du deine Rockkonzerte veranstaltet hast - und ihr alle standet da mit Zielscheiben auf euren Köpfen. Das muß um drei Uhr morgens verschwinden.«

General Short setzte das folgende Detail über die Ziele, die er in Jugoslawien angreift, hinzu: »Zu derselben Zeit, da ich die erste Priorität von SACEUR (des Obersten Alliierten Befehlshabers der NATO in Europa) verwirkliche - das Killen der Armee im Kosovo - muß ich auch die Führung und die Leute um Milosevic treffen, um sie zu zwingen, ihr Verhalten im Kosovo zu ändern und die auf dem Tisch der NATO liegenden Bedingungen zu erfüllen.« ... »Ich gebe Richtlinien, die besagen, wenn du einen Zielbereich bearbeitest und du nicht sicher bist, ruf mich an, und ich sage dir, abwerfen oder nicht. Ruf mich an und beschreibe mir das Dorf und sag: "Boß, ich sehe ein Dorf, und ich sehe Panzer neben den Häusern im Dorf. Was möchten Sie, daß ich tue?"Befehl ihnen, die Panzer zu treffen". Und wenn er aus Versehen ein Haus trifft, ist das meine Verantwortung. Ich muß dem jungen Hauptmann den schwarzen Peter abnehmen. Die sind da oben mit 400 bis 500 Meilen in der Stunde, Leute schießen auf sie, sie tauchen in die Wetterfronten. Sie brauchen nicht die zusätzliche Verantwortung dafür "Was passiert, wenn ich den Panzer verfehle? Werde ich Ärger bekommen?"«

Zusätzlich zu diesen vorsätzlichen Angriffen auf zivile Infrastruktur und Objekte gibt es eine Vielzahl von Angriffen, die unmittelbaren physischen Schaden und Tod von Zivilpersonen verursachten, oft ohne einen damit verbundenen militärischen Nutzen, und die nachträglich von der NATO als das Ergebnis irrtümlicher Zielansprache dargestellt wurden. Beispiele dieser Art betreffen am 29. März die Bombardierung von zwei Flüchtlingszentren bei Nis, die von CARE Australia im Namen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen verwaltet wurden, wobei neun Flüchtlinge getötet wurden; am 12. April die Bombardierung eines Zuges auf der Fahrt von Belgrad nach Ristovac im Augenblick der Überquerung der Brücke über die Juzna Morava bei der Schlucht von Grdelica, wobei 21 Passagiere getötet und 16 verwundet wurden; am 15. April die Bombardierung eines Flüchtlingskonvois an vier verschiedenen Stellen auf einer Strecke von 12 Kilometern auf der Straße von Prizren nach Djakovica, wobei annähernd 74 Menschen getötet wurden; am 1. Mai und 3.Mai die Bombardierung von zwei Bussen, wobei jeweils ungefähr 40 und 17 Menschen getötet wurden; am 7. Mai die Bombardierung des Marktplatzes von Nis, wobei 15 Menschen getötet wurden, am 14. Mai die Bombardierung des Dorfes Korisa, wobei mindestens 81 Menschen getötet wurden.

Die Art und Weise der einzelnen Angriffe sowie deren Auswirkungen sind den Angeklagten insgesamt zuzurechnen, da vorliegend jegliche Verwendung von Waffenarten sowie die Durchführung der Operationen im Kriegseinsatz durch die militärische Führung angeordnet, zumindest jedoch im Einzelfall gebilligt worden ist.

Die Verantwortung der Regierungen ergibt sich neben der grundsätzlichen Entscheidung zum Beginn und während der Führung des Krieges auch aus der Tatsache, daß während des Krieges Einsatzziele nur durch den NATO-Rat selbst freigegeben werden konnten. Darüber hinaus billigten die Regierungen die Kriegführung und nahmen direkten Einfluß auf die Auswahl der konkreten Angriffsziele sowie der eingesetzten Munitionsarten.

Die in den Parlamenten die Beschlüsse zur Kriegsteilnahme mittragenden Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben die Regierungen und die NATO insgesamt zur Vornahme der Kriegshandlungen bevollmächtigt und haben somit auch die Folgen der Handlungen der von ihnen Bevollmächtigten zu verantworten.

»Ich habe dem NATO-Rat und damit den Nationen zu bescheinigen, daß man im Allgemeinen und von gewissen Anlaufschwierigkeiten abgesehen, der militärischen Führung der NATO Freiraum gab und viel Vertrauen entgegenbrachte. Wir haben die politischen Entscheidungen erbeten und bekommen für bestimmte Zielkategorien. Aber innerhalb dieser Zielkategorien waren wir frei.« (General a.D. Naumann)

»Zielplanung findet auf der Ebene des obersten militärischen Hauptquartiers der NATO in Europa (SHAPE) statt; dort ist grundsätzlich über den Einsatz dieser Waffen entschieden worden.«

»Der Einsatz eines bestimmten Waffentyps - auf Anforderung der NATO - liegt bei der Nation, die den Waffenträger eingesetzt.« (24)

Die Angeklagten sind insgesamt für die Handlungen verantwortlich. Ihnen ist auch die Rechtswidrigkeit ihrer Handlungen zuzurechnen, da die Entscheidung im Rahmen eines begrenzten Zusammenschlusses einzelner Staaten, wie ihn die NATO darstellt, keine Grundlage für die Führung von militärischen Operationen oder gar Kriegen schaffen kann, die nicht von der UNO gebilligt worden sind.

Bei dieser Untersuchung kommt es darauf an, daß die hergebrachten Grundsätze der Kriegführung, die auf den raschen, kosteneffektiven Sieg über den Kriegsgegner gerichtet sind, gewissermaßen die »militärischen Notwendigkeiten« zur militärischen Bezwingung und politischen Überwindung des Feindes vor den Regeln des Kriegsvölkerrechts Bestand haben. Deshalb ist bei jedem der untersuchten Fälle zu prüfen, mit welcher militärischen und gegebenfalls politischen Begründung das Ziel oder die Maßnahme gewählt worden ist, welchen Beitrag ein Angriff oder Waffeneinsatz zur Erreichung des Kriegsziel leistete oder leisten sollte.

Der NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark hat während eines Lagevortrags am 13.April 1999 in Brüssel die Ziele des NATO-Luftkriegs gegen Jugoslawien wie folgt dargestellt: angreifen, unterbrechen, abnutzen, weitere serbische Aktionen abschrecken und das serbische Militärpotential neutralisieren.

Diese Ziele sollten in zwei Operationslinien verfolgt werden:

1. Operationen gegen die serbischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte im Kosovo und in den angrenzenden Gebieten, um diese zu zerstören, zu isolieren und sie daran zu hindern, ihre Kampagne fortzusetzen oder zu intensivieren.

2. Operationen gegen eine Auswahl strategischer Zielkategorien. Dazu gehörten die Versorgungsbasen, die integrierte Luftverteidigung, die wichtige Ziele im ganzen Land schützt, die höhere Entscheidungs- und Führungsebene, Anlagen der Produktion und Lagerung von Kraftstoffen (POL = Petrol, Oil, Lubrificants), alle Eirichtungen, die den »Militär- und Sicherheitsmoloch« stützen.

Die Luftangriffe würden, so General Clark, »systematisch, methodisch und mit verstärkter Intensität« durchgeführt. Das ist eine Umschreibung für die klare Einschätzung der Art und Bedeutung jedes einzelnen Ziels, also Vorsatz für den Angriff eindeutig ziviler Objekte. Zweifel wird nicht erst zugelassen. Die Bundeswehrführung versuchte, sich von dem Vorwurf, an der Zerstörung verbotener ziviler Objekte beteiligt zu sein, mit der Behauptung aus der Affäre zu ziehen, daß Rechtsberater jedes einzelne Ziel vor dessen Angriff darauf überprüft hätten, ob es auch tatsächlich ein militärisches, also erlaubtes Ziel sei. Dies ist eine abenteuerliche Behauptung, die nicht einmal von den NATO-Sprechern gebraucht wurde. Diese Ausflucht macht aber auch deutlich, daß das Problembewußtsein da war und dennoch zivile Objekte angegriffen, zerstört und damit Zivilpersonen getötet wurden. Das Verhalten der Verantwortlichen zeigt eine erhebliche »kriminelle Energie«.

Aus dem Kriegsgeschehen werden die folgenden konkreten Handlungen exemplarisch für die Verstöße im Sinne der Anklage zum Gegenstand der Anklage erklärt:

1. Angriff auf einen Personenzug auf der Eisenbahn-Brücke über die Grdelica-Schlucht und den Fluß Juzna Morava am 12.04.1999 zwischen 11.40 und ca. 11.55 Uhr

Bei diesem Luftangriff wurde der Personenzug Nr. 393 von Belgrad nach Ristovac zum Zeitpunkt der Passage über die Brücke beschossen und zerstört. Im Ergebnis erfolgte die totale Zerstörung des Personenzugs mit einer Lokomotive und vier Personenwaggons. Durch den Angriff starben mindestens 21 Zivilisten und wurden weitere 16 verletzt. (Dazu erklärt die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien, daß etwa 55 Personen ums Leben kamen.)

Eine militärische Funktion bezogen auf den zivilen Personenzug ist nicht gegeben. Die Brücke selbst könnte als strategisch wichtiger Teil der Verkehrsinfrastruktur angesehen werden, die im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang unmittelbaren Nutzen für die Kriegführung besaß. Ziel der Angriffe war jedoch der Personenzug selbst. Es handelt sich somit um einen unmittelbar verbotenen Angriff auf Zivilpersonen.

Der Geschehensablauf stellt sich wie folgt dar: Zwei Flugzeuge näherten sich von Westen der Brücke. Das zweite feuerte zwei Lenkflugkörpern des Typs AGM-130 auf einen Personenzug auf der Eisenbahnbrücke, wobei der erste den Mittelteil der Brücke, der zweite den zweiten Eisenbahnwaggon des fahrenden Zugs traf.

Nach dem Augenzeugenbericht von Zivojin Stanojevic näherte sich kurz darauf ein weiteres Flugzeug, das wiederum zwei Flugkörper abfeuerte, diesmal auf die sogenannte »Sarajevo«- Brücke, eine Straßenbrücke. Diese Schilderung des Angriffs weicht von der Darstellung der NATO ab.

Die Angeklagten haben sich öffentlich zur Tat eingelassen und hierbei zur Verschleierung der Verletzungshandlung die Öffentlichkeit versucht zu täuschen, indem das Beweismaterial manipuliert wurde. Als Rechtfertigung erfolgte eine Begründung folgenden Inhaltes durch General Wesley Clark, den Oberbefehlshaber der NATO für Europa:

Der wesentliche Teil der auf der Pressekonferenz im NATO-Hauptquartier, Brüssel, am 13. April 1999 abgegebenen Erklärung für den Zwischenfall wird hier vollständig wiedergegeben: »Dies war ein Fall, wo ein Pilot die Aufgabe erhielt, eine Eisenbahnbrücke zu treffen, die Teil des integrierten Verkehrs- und Versorgungsnetzes von Serbien ist. Er schoß seine Raketen aus einem Flugzeug ab, das viele Meilen entfernt war, er war nicht in der Lage, seine Augen auf die Brücke zu richten, es war ein Angriff aus größerer Entfernung (remotely directed attack). Und während er angestrengt auf den angestrebten Zielpunkt auf der Brücke starrte, und ich sprach mit der Mannschaft in Aviano, die unmittelbar an dieser Operation beteiligt war, während also der Pilot angestrengt auf den angestrebten Zielpunkt auf der Brücke starrte und ihn erfaßte, und erfaßte und erfaßte (and worked it, and worked it, and worked it), und plötzlich im allerletzten Augenblick, weniger als eine Sekunde vor dem Abschuß (with less than a second to go), erfaßte er etwas Bewegliches (caught a flash of movement), das in den Bildschirm kam, und das war der Zug, der hereinkam. Leider konnte er die Bombe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fallen lassen (couldn't dump the bomb at that point), sie war fixiert (it was locked), sie war dabei, ins Ziel zu gehen (it was going into the target), und das war ein unglücklicher Zwischenfall, den er und die Mannschaft und alle von uns sehr bedauern. Wir wollen gewiß keinen Kollateralschaden anrichten. Der Auftrag war, die Brücke auszuschalten. Ihm wurde, als es geschehen war, bewußt, daß er nicht die Brücke getroffen hatte, sondern daß das, was er getroffen hatte, der Zug war. Er hatte einen anderen Zielpunkt auf der Brücke, es war eine relativ lange Brücke, und der Pilot glaubte, er hätte immer noch seinen Auftrag zu erfüllen, und kehrte um (and he believed he still had to accomplish his mission, the pilot circled back around). Er richtete seinen Zielpunkt auf das andere Ende der Brücke, woher der Zug gekommen war (He put his aim point on the other end of the bridge from where the train had come); als die Bombe näher kam (by the time the bomb got close), war die Brücke mit Rauch und Wolken bedeckt und wieder in letzter Minute in einem unheimlichen Unfall (at the last minute again in an uncanny accident), war der Zug weiter von dem ursprünglichen Einschlag geglitten (the train had slid forward from the original impact) und Teile des Zuges hatten sich über die Brücke bewegt (parts of the train had moved across the bridge), und so, indem er das andere Ende der Brücke traf, verursachte er tatsächlich zusätzlichen Schaden am Zug.«

Clark zeigte dann das Cockpit-Video des Flugzeugs, das auf die Brücke feuerte und kommentierte dies wie folgt: »Der Pilot in dem Flugzeug schaut auf einen etwa 5 Inch großen Bildschirm, er sieht etwa so viel, und hier können Sie sehen, das ist die Eisenbahnbrücke, was eine viel bessere Sicht ist, als er sie tatsächlich hatte, Sie können die Schienen erkennen, die so verlaufen.

Schauen Sie angestrengt auf den Zielpunkt, konzentrieren Sie sich genau hierauf, und Sie können sehen, wie, falls Sie wie ein Pilot auf ihren Job fokussiert sind, plötzlich dieser Zug erschien. Es war wirklich unglücklich. Hier kam er, wieder zurückgekehrt, um zu versuchen, einen anderen Punkt an der Brücke zu treffen, weil er versuchte, seinen Job zu machen, die Brücke auszuschalten. Schauen Sie auf diesen Zielpunkt - Sie können dort Rauch und andere Sichtbehinderungen (obscuration) sehen - er konnte nicht erkennen, was das genau war.

Fokussieren Sie angestrengt rechts auf das Zentrum des Kreuzes. Er ist dabei, diese beiden Kreuze zusammenzubringen und plötzlich erkennt er im allerletzten Augenblick, daß der Zug der hier getroffen worden war, sich weiter über die Brücke bewegt hat, und so wurde offensichtlich die Zugmaschine von der zweiten Bombe getroffen.« (Pressekonferenz, NATO-Hauptquartier, Brüssel, 13.April)

Die Einlassung der Angeklagten führt im Ergebnis nicht zur Feststellung eines unvermeidbaren Unglücks.

Zwar ist aufgrund des Videos zugunsten der Angeklagten davon auszugehen, daß der Waffenoffizier tatsächlich zunächst nur die Brücke im Visier hatte und diese treffen wollte. Nachdem er aber den Zug herannahen sah und erkannte, daß er den Zug treffen würde, hat er nichts unternommen, um den Angriff abzubrechen. Die Herstellerfirma der Lenkflugkörper hat der Darstellung des NATO-Oberbefehlshabers widersprochen, daß der Waffensystemoffizier nur den kleineren inneren Bildausschnitt hatte. Er hatte demnach den Zug sehr viel früher als behauptet im Bild und hätte deshalb den Lenkflugkörper rechtzeitig aus dem »Lock on« nehmen und in eine andere Richtung lenken können. Wenige Tage vorher hatte die NATO den Journalisten vorgeführt, wie mit derselben Waffe im letzten Augenblick ein Angriff abgebrochen worden war, um einen Kollateralschaden zu vermeiden.

Die Darstellung von General Clark ist grob irreführend. »Die während des Angriffs automatisch aufgezeichneten Videofilme liefen mit dreifacher Geschwindigkeit, was Phillips (ein NATO- Sprecher Anfang Januar 2000) als unbeabsichtigtes technisches Problem bei der Übertragung von einem System auf ein anderes zu entschuldigen versuchte.

Am Tag nach dem Angriff waren die beiden Filme in Brüssel gezeigt worden; dabei war der Eindruck entstanden, als sei der Zug überraschend schnell auf der Brücke erschienen, so daß der Pilot den Angriff nicht mehr habe abbrechen können. Der amerikanische NATO- Oberbefehlshaber Clark hatte zudem den Eindruck erweckt, als sei der Pilot selbst für die Steuerung der beiden Lenkflugkörper verantwortlich gewesen und habe daher "alle Hände voll zu tun" gehabt. Tatsächlich war für den Abschuß jedoch ein mitfliegender Waffenoffizier zuständig. Diesen Sachverhalt habe Clark vielleicht nicht ganz korrekt wiedergegeben, sagte Phillips. Den Vorwurf einer Manipulation wies er jedoch entschieden zurück. (Ho.)« (25)

Auf einer stark befahrenen Eisenbahnstrecke wurde die Leskovac-Brücke häufig überquert; doch wie General Clark offensichtlich eingesteht, schaute der Pilot überhaupt nicht auf die Brücke, da er sich in einem »ferngesteuerten Angriff« (»remotely directed attack«) befand.

Zweitens gibt General Clark zu, daß der Pilot wußte, daß er mit seinem ersten Schlag einen Zug getroffen hatte. Trotzdem machte der Pilot weiter, um einen zweiten Schlag auszuführen; er wollte immer noch »die Brücke ausschalten«, obgleich sich dort zu dem Zeitpunkt ein Zug befand, der bombardiert worden war. Offenbar versuchte der Pilot nach General Clarks eigenem Eingeständnis die Brücke zu zerstören, die, wie er wußte, zu der Zeit einen Zug auf sich trug. Es ist nicht vorstellbar, wie dies ohne weitere Verluste an Menschenleben hätte erreicht werden können. Darüber hinaus war der zweite Angriff keine Augenblicksreaktion (instant reaction), entschuldbar durch Nervosität oder Fehler. »Um seinen Auftrag zu erfüllen, kehrte der Pilot um« (»to accomplish his mission, the pilot circled back around«).

Drittens erklärt General Clark, daß der Pilot überhaupt nicht sehen konnte, auf was er feuerte. Bei der Vorführung des Videos sagte General Clark: »Sie können dort Rauch und andere Sichtbehinderungen sehen - er konnte nicht erkennen, was das genau war.« (»you can see smoke and other obscuration there - he couldn't tell what this was exactly.«) Daher feuerte der Pilot auf ein Objekt, das er nicht einmal identifizieren konnte, infolge von »Rauch und Wolken«.

Diese drei Faktoren lassen nur die Feststellung zu, daß der Angriff in bewußter Verletzung der Regeln über die Kriegführung geflogen worden ist.

Der zweite Punkt, die Vollendung des Angriffs, obgleich seine schwerwiegenden Folgen für Zivilpersonen offenkundig geworden waren, stellt eine Verletzung des Artikels 3 des Genfer Abkommens von 1949 da, ebenso eine Verletzung der Artikel 85 Absatz 1 & Absatz 3 des 1. Zusatzprotokolls.

Dem Piloten war offenkundig, daß Gewalt gegen Leben und Person die Folge seines Angriffs sein würden. Im humanitären Völkerrecht kommt es weniger darauf an, ob Einzelpersonen beabsichtigen, nach General Clarks Ausdrucksweise »Kollateralschaden anzurichten«, sondern ob unverhältnismäßige zivile Opfer als Folge eines spezifischen Angriffs nach menschlichem Ermessen zu erwarten waren. In diesem Falle erscheint es schwer vorstellbar, wie ein Pilot nicht unverhältnismäßige zivile Todesopfer als Folge eines Angriffs auf eine Brücke erwarten konnte, von der er wußte, daß sich zu dem Zeitpunkt ein Zug darauf befand. Da die Verantwortung für jeden einzelnen Einsatz durch die militärische Leitung der NATO-Operation getragen wurde, ist diese Verletzung des internationalen Kriegsrechtes auch durch die Angeklagten direkt zu verantworten. (26)

2. Angriff auf einen Flüchtlingskonvoi auf der Straße von Djakovica nach Prizren nahe den Dörfern Madanaj und Meja am 14. April 1999 zwischen 13.30 und ca. 15.30 Uhr

Ein Konvoi kosovo-albanischer Flüchtlinge auf der Straße von Prizren nach Djakovica, nahe den Dörfern Madanaj und Meja, wurde über eine Strecke von 12 Meilen am 14. April 1999 zwischen 13.30 und 15.30 Uhr an vier verschiedenen Stellen angegriffen. Hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Menschen, die in Autos, auf Traktoren und Anhängern in ihre Heimatorte zurückkehren wollten, befanden sich in dem Konvoi. Der erste Angriff auf die Marschkolonne von über 1000 Personen erfolgte, als der Konvoi sich gerade durch das Dorf Meja bewegte. Die Menschen aus dem Konvoi verstreuten sich und versuchten, Schutz in den nahe gelegenen Häusern zu finden. Aber die Flugzeuge feuerten auch auf diese Häuser Flugkörper ab. Der Angriff wurde entlang der Straße zwischen den Dörfern Meja und Bistrazin fortgesetzt. Die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten beim Angriff auf den Flüchtlingskonvoi betrug 74, darunter 5 Kinder, die auf einem Traktor saßen. 36 weitere Personen wurden verwundet.

Zunächst erfolgte der Angriff mit mehreren Flugkörpern von mehreren Flugzeugen in der Nähe des Hauses von Sadrija Hasanaj (S.H.), Meja, danach auf das Haus von S. H., in das mehrere Flüchtlinge gelaufen waren.

Weitere Bombardierung des Hauses von Vitor Gojani, Meja. 2 x 2 m Krater, ca. 2 m tief neben dem Haus. Ein weiterer Angriff zwischen Meja und Bistrazin wurde mit mindestens einem Flugkörper geführt, der einen Traktor mit Anhänger auf der Straße traf.

Ein weiterer Angriff auf derselben Straße in der Nähe von Bistrazin, Höhe der Terzijski-Brücke erfolgte ebenfalls mit einem Flugkörper, der die Straße traf, wobei zwei Traktoren mit Anhängern getroffen wurden. Ein weiterer Angriff auf derselben Straße an einem Platz, der Gradis genannt wird, etwa 200 Meter von der Svanjski-Brücke, erfolgte mit mindestens vier Flugkörpern, die zwei Traktoren, einen PKW und einen Kleinlastwagen zerstörten.

Die Angriffe erfolgten in Kenntnis der Tatsache, daß es sich ausschließlich um Zivilisten handelte, die angegriffen wurden.

Die jugoslawische Armee hat am 14. April folgendes Funkgespräch aufgezeichnet:

»Pilot: Ich verlasse jetzt die Wolken. Ich sehe immer noch nichts.

Basis: Setzen Sie Ihren Flug fort. Richtung Nord 4280.

Pilot: Ich bin unter 3000 Fuß. Unter mir eine Kolonne von Fahrzeugen. Eine Art von Traktoren. Was soll das? Ich verlange Instruktionen.

Basis: Wo sind die Panzer?

Pilot: Ich sehe Traktoren. Ich nehme nicht an, daß die Roten die Panzer als Traktoren getarnt haben.

Basis: Was sind das für komische Geschichten? So ein Ärger! Da stecken sicher die Serben dahinter. Zerstören Sie das Ziel!

Pilot: Was soll ich zerstören? Traktoren? Gewöhnliche Fahrzeuge? Ich wiederhole: Ich sehe keine Panzer. Ich verlange weitere Informationen.

Basis: Es ist ein militärisches Ziel. Zerstören Sie das Ziel! Ich wiederhole: Zerstören Sie das Ziel!« (27)

Die NATO hat ihre Beteiligung zunächst geleugnet. Am 15. April erklärten zwei Sprecher der NATO, Brigadegeneral Giuseppe Marani und Dr. James Shea, daß die Flughöhe der Flugzeuge, die den Konvoi angriffen, 15000 Fuß oder etwa 5000 Meter betrug.

Am 19. April bestätigte Brigadegeneral Daniel P. Leaf von der NATO, daß kein Flugzeug während der Angriffe auf niedrigere Flughöhen abstieg. Da die jugoslawische Luftabwehr keine Ziele, die höher als 13000 Fuß fliegen, erreichen kann, ist es wahrscheinlich, daß die Wahl der Flughöhe durch die NATO danach berechnet war, eine Bedrohung durch diese Abwehr zu vermeiden. Der Brigadegeneral stellte den Vorgang des Angriffs im übrigen wie folgt dar: »So wie wir diese Videos (d.h. die Cockpit-Videos) auf dem großen Display im Komfort dieses Raumes betrachten, erscheint es möglich, daß die Fahrzeuge traktorähnliche Fahrzeuge sind. Als ich die Bänder mit den Piloten abgehört habe, stimmten diese zu. Doch, wie sie betonten, schienen sie aus der Angriffshöhe für das bloße Auge wiederum Militärfahrzeuge zu sein, wobei die physischen Charakteristika der Fahrzeuge nur ein Faktor für die Zielansprachematrix (»forward air controller's target identification matrix) war. Die Führungselemente des Konvois hatten aus der Luft gesehen verschiedene Charakteristika einer militärischen Bewegung gleichförmiger Größe, Gestalt und Farbe, ferner konsistente Abstände zwischen den Fahrzeugen und eine relativ hohe Geschwindigkeit sogar vor den Angriffen. Außerdem hat es Berichte darüber gegeben, daß die serbischen Streitkräfte zivile Fahrzeuge für militärische und paramilitärische Operationen benutzen.«

Brigadegeneral Leaf schloß mit der Feststellung: »Es ist unsere Einschätzung, daß NATO-Streitkräfte unabsichtlich Fahrzeuge zivilen Typs getroffen und vielleicht ziviles Personal bei dem Angriff auf den langen Konvoi.«

Die Angriffe erfolgten seitens der NATO in Kenntnis des zumindest höchstwahrscheinlichen Zivilcharakters des Konvois. Die seitens der Angeklagten vorgebrachte Erklärung vermag nicht zu überzeugen.

Die Piloten hatten optisch nicht genau erkennen können, welche Art von Fahrzeugen im Konvoi vorhanden war, und hatten die Lage offenbar nach der schwächsten Form von Anhaltspunkten, wie der Geschwindigkeit der Bewegung und des gleichmäßigen Abstands zwischen den Fahrzeugen, zu beurteilen, wie Brigadegeneral Leaf bei seinem Briefing zu verstehen gegeben hat.

Die Flughöhe während des Angriffs war der andere kritische Punkt. In den Worten von Brigadegeneral Leaf »schienen sie aus der Angriffshöhe für das bloße Auge Militärfahrzeuge zu sein«. Wenn diese Worte des Brigadegenerals wörtlich zu nehmen sind, hat er damit zugegeben, daß NATO-Piloten das, worauf zu schießen war, nur mit dem bloßen Auge aus einer Entfernung von fünf Kilometern vom Ziel beurteilten. Wie dieser Angriff gezeigt hat, ist ein derartiger Mangel an Vorsicht bei der Zielauswahl geeignet, zu einer großen Zahl von Todesopfern zu führen, da nicht einmal das schärfste bloße Auge aus einer Entfernung von 5000 Metern einen Panzer von einem Traktor zu unterscheiden in der Lage ist.

Der Widerspruch zwischen der Behauptung während der NATO-Pressekonferenz, die Flugzeuge hätten die Flughöhe von ca. 5000 Meter nicht unterschritten, und der Aussage des Piloten, daß er auf 3000 Fuß herunter ging, bleibt unaufgelöst. (28)

3. Angriff auf das Studio von RADIO TELEVIZIJA SRBIJA (RTS) in Belgrad, 1 Aberdareva Straße am 23.April 1999 um 02.06 Uhr

Durch den Angriff auf das Studiogebäude mit einer unbekannten Zahl von Flugkörpern (Marschflugkörper), die den Sendemast und das Gebäude im Eingangsbereich trafen, stürzten die oberen Stockwerke ein. Es entstand Feuer, das bis zum Morgen brannte. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich ca. 100 Zivilpersonen in den Studios und Redaktionen. Bei dem Angriff kamen 16 Zivilpersonen ums Leben, 3 wurden schwer, 16 leicht verletzt.

Die NATO begründete den Angriff so: Generell würden in Jugoslawien technische Einrichtungen ziviler Radio- und Fernsehstationen für das militärische Nachrichtenwesen verwendet. Außerdem würde über diesen Sender Propaganda des Milosevic-Regimes verbreitet.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Studio direkt und gezielt angegriffen wurde, da der Angriff auf Drohungen der NATO in den Vortagen folgte, die sich auf die Ausstrahlung der Fernsehstation bezogen und zeitweilig andeuteten, daß das Studio angegriffen werden würde, wenn der RTS-Fernsehkanal nicht sechs Stunden am Tag westliche Medienberichte senden würde.

Der deutsche NATO-Sprecher, Oberst Konrad Freytag, SHAPE, sagte einige Stunden nach dem Angriff und in unmittelbarem Bezug auf die Bombardierung der RTS-Studios: »Schläge gegen Fernsehsender und Rundfunkeinrichtungen sind Teil unserer Kampagne, die jugoslawische Propagandamaschine zu demontieren, die ein lebenswichtiger Teil des Kontrollmechanismus von Präsident Milosevic ist«. (29)

Tony Blair, Premierminister des Vereinigten Königreichs, erklärte: »Es ist der Apparat, der ihn (Präsident Milosevic) an der Macht hält, und wir sind als NATO-Alliierte vollkommen berechtigt, solche Ziele anzugehen und zu beschädigen.« (30)

Bei einer weiteren Gelegenheit sagte Tony Blair: »Wir müssen seine Militärmaschine und den ganzen Apparat der Diktatur gezielt angreifen. Die staatlich kontrollierten Medien sind ein Teil davon, und ich denke, es ist ein richtiges und gerechtfertigtes Ziel für uns. Wir wußten sicher, daß diese Dinge (d.h. Fernseheinrichtungen) legitime Ziele waren, und sie waren unbedingt legitime Ziele.« (31)

George Robertson, britischer Verteidigungsminster, sagte auf die Frage nach der Bombardierung der RTS-Studios: »Tatsache ist, daß viele dieser Ziele wirklich das Gehirn hinter der Brutalität sind, die heute im Kosovo stattfindet, fester Bestandteil des Apparates, der den ethnischen Völkermord betreibt, der in diesem Teil Jugoslawiens erfolgt, und so lange, wie dies andauert, sieht man, daß wir diese Ziele angreifen müssen.« (32)

Für Kenner militärischer Strukturen ist unzweifelhaft, daß sich Streitkräfte bezüglich ihrer jederzeitigen militärischen Kommunikationsfähigkeit nirgendwo auf zivile ortsfeste Stationen stützen. Deshalb ist die Behauptung, der RTS-Sender wäre für militärische Nachrichtenübermittlung bedeutsam gewesen, eine unglaubwürdige Behauptung. Darüber hinaus kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das NATO-Personal sich dessen bewußt war, daß dort während der Nacht Leute im RTS-Gebäude arbeiteten. RTS war zum Zeitpunkt der Bombardierung auf Sendung und betrieb bestimmte 24-Stunden-Dienste, was bekannt war. Es ist ausführlich darüber berichtet worden, daß Botschaften von der NATO an ausländische Journalisten übermittelt wurden, die gewöhnlich ihre Berichte vom RTS-Gebäude abschickten und dort filmten, in dieser Nacht dort nicht anwesend zu sein, was bestätigt, daß sich die NATO-Verantwortlichen dessen bewußt waren, daß der Betrieb während der Nacht in dem Gebäude weiterging. Wenn das Töten der RTS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter nicht Vorsatz war, wurde deren Tod und Verletzung zumindest billigend in Kauf genommen.

Rechtliche Würdigung: Artikel 51 des Ersten Genfer Protokolls verbietet den Angriff auf die Zivilbevölkerung. Eine Zivilperson wird in Artikel 50 des Ersten Protokolls als eine Person definiert, die nicht unter die Kategorien der Personen in den Artikeln 4A (1), (2), (3) und (6) der Dritten Genfer Konvention von 1949 und unter Artikel 43 des Protokolls fallen. Beschäftigte in den Medien fallen in keine dieser Kategorien. Vielmehr werden Kriegskorrespondenten in Artikel 4A(4) erwähnt; und diese Gruppe ist in Artikel 50 des Ersten Genfer Protokolls deutlich ausgenommen aus der Liste des militärischen Personals. Darüber hinaus stellt Artikel 79 des Ersten Protokolls insbesondere fest, daß Journalisten im Gebiet des bewaffneten Konflikts als Zivilpersonen anzusehen sind. Somit war der Angriff, insofern er auf diese Gruppe von Menschen gerichtet war, eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. Hilfsweise ist zu argumentieren, daß der NATO-Angriff auf das Gebäude gerichtet war, in welchem diese Personen arbeiteten, d.h. auf die Fernsehstudios. Artikel 51(5) des Ersten Genfer Protokolls verbietet wahllose Angriffe, »die den Verlust menschlichen Lebens, Verwundungen an Zivilpersonen, Schaden an zivilen Objekten oder eine Kombination von diesen verursachen könnten, die im Verhältnis zu dem erwarteten unmittelbaren militärischen Vorteil übermäßig wären«.

Der konkrete unmittelbare militärische Vorteil war minimal, insbesondere da RTS in der Lage war, den Sendebetrieb sechs Stunden später wieder aufzunehmen: es ist höchst unwahrscheinlich, daß sich die NATO-Führer dieser Fähigkeit nicht bewußt gewesen sind. Der Verlust an menschlichem Leben macht diesen Angriff zu einem wahllosen Angriff. Ferner konnte das RTS-Studio selbst als ein ziviles Objekt und somit nicht als ein legales Angriffsziel angesehen werden. Sofern schließlich das militärische Ziel darin bestand, die Übertragung von »Propaganda« zu verhindern, hätte die NATO die freistehenden Sendemasten statt dessen gezielt angreifen können, um den Verlust von Menschenleben zu vermeiden; nach Artikel 57(3) des Ersten Genfer Protokolls muß ein solches Ziel bevorzugt werden. Der Rechtfertigungsversuch der NATO, daß das RTS-Gebäude ein »legitimes« Ziel war, weil es der Propagandaverbreitung des »Milosevic-Regimes« diente, beweist zweierlei: Die NATO-Verantwortlichen wußten, daß der Angriff rechtswidrig war. Das humanitäre Völkerrecht kennt den Begriff »legitim« (legitimate) nicht. Entweder ein Objekt darf im Krieg angriffen werden, weil es ein militärisches Ziel ist, dann ist der Angriff legal, oder es darf nicht angegriffen werden, weil es sich um ein ziviles Objekt handelt. Dann ist der Angriff illegal.

Des weiteren handelt es sich um einen rechtswidrigen Eingriff in das Recht auf freie Information.

4. Angriff auf das »Dragisa Misovic«-Klinische und Krankenhauszentrum (KBC)

Am 20. Mai 1999 gegen 12.05 Uhr wurden Einrichtungen innerhalb des Komplexes des KBC in Belgrad, Bulevar mira Nr. 64, Ziel eines Luftangriffs. Die neurologische Abteilung wurde getroffen, eine Seitenwand und die Wand gegenüber der Jovana Marjanovica wurden zerstört, wobei der Fußboden zwischen Parterre und dem ersten Stock zusammenbrach. 4 Patienten auf der Intensivstation dieser Abteilung wurden getötet: Zora Brkic (geb. 1917) Bosko Vrebalov (1917) Radosav Novakovic (1952) und Branka Boskovic (ungefähr 75 Jahre alt) Alle Gebäude innerhalb des Krankenhauskomplexes wurden beschädigt, teilweise die gynäkologische und Geburtshilfeabteilung, wo Irena Dinic (1966) leicht verletzt wurde, ebenso wie die Kinderabteilung für Lungenkrankheiten und Tuberkulose, wo die Dachkonstruktion zusammenfiel, alle Türen, Fenster und die elektrischen Geräte sowie Einrichtungsgegenstände dabei beschädigt wurden.

Auch das Verwaltungsgebäude des Klinikkomplexes wurde beschädigt, ebenso wie nahegelegene Wohn- und Geschäftsgebäude (Jugopetrol Tankstelle, Poststelle, Jugoslawisches Archivgebäude, »Milosev Konak«-Restaurant, serbische Stromversorgungsgebäude, Gebäude des Instituts für die Behandlung von Drogenabhängigkeit, die Residenzen der schwedischen, Schweizer und irakischen Botschaften.

Darko Vasic (1976), der sich zum Zeitpunkt der Explosion zufällig in der Nähe des Zentrums aufhielt, hat kleinere Verletzungen davongetragen. (33)

5. Der Einsatz der sogenannten DU-Geschosse mit abgereichertem Uran 238 (Depleted Uranium)

Im Rahmen der Angriffe der Luftstreitkräfte wurde während des gesamten Kriegsverlaufs sogenannte DU-Munition verwendet, die radioaktive Uran-Produkte, insbesondere U-238, aber auch U-234 und U-235 enthält.

Die entsprechenden Geschosse werden zur Durchdringung gepanzerter Ziele hergestellt, wobei das abgereicherte Uran, ein fast reines Uran-Metall, als Geschoßmantel benutzt wird. Uran 238 als sog. »schwerer Stoff« mit einer 1,7 mal höheren Dichte als Blei kann auch gehärtete Ziele durchschlagen. Bei dem Aufschlag der Geschosse findet durch die damit verbundene Hitzeentwicklung eine Verformung der Geschosse statt, wodurch zwischen 40 und 70 Prozent der radioaktiven Bestandteile freigesetzt werden. Durch die Verbrennung bei Aufschlag erfolgt eine Oxidation zu extrem kleinen Partikeln. Diese entweichen insbesondere in Form von Rauch, so daß die toxischen Teilchen sich in der Luft zu Staub vermischen. Der radioaktive Staub wird über größere Entfernungen abgelagert, wodurch ein Eindringen der radioaktiven Bestandteile in Boden und Wasser sowie letztlich in die Nahrungskette erfolgt. Es handelt sich also um eine Waffe, die langfristige Schäden der Ökologie und somit insbesondere der Zivilbevölkerung verursacht. Daneben werden auch die Soldaten in den Einsatzgebieten einer Kontaminierungsgefahr ausgesetzt.

Da U-238 ein sogenannter Alpha-Strahler ist und das erste Isotop in einer Zerfallskette hin zu Blei darstellt, resultiert die radiologische Belastung nicht nur aus U-238 selbst, sondern auch aus den Zerfallsprodukten. Im abgereicherten Uran ist die natürliche Zusammensetzung von Uran so verändert, daß ca. 99,799 Prozent des Gewichts auf U-238 entfällt, 0,2 Prozent auf U-235 und 0,000897 Prozent auf U-234 (bei der Herstellung aus natürlichem Uran). U-238 zerfällt zunächst über die sog. Betastrahler Thorium-234 und Protactinium-234m zu U-234 (die Halbwertzeit von U-238 beträgt rund 4,5 Milliarden Jahre, die von Th-234 nur rund 24 Tage, die von Pa-234m lediglich 1,17 Minuten). Im Ergebnis erhöht sich so der Anteil von U-234. Die Folgen der Zerfallsketten sind, daß das abgereicherte Uran im Laufe der Zeit immer stärker strahlt.

Die Gesundheitsgefahren liegen daher in drei Bereichen: Strahlenbelastung durch Gamma- und Betastrahlung bei äußerem Kontakt; Stahlenbelastung der Lunge durch Alphastrahlung des Uranstaubes; die Wirkung von Uran als chemisches Gift bei der Aufnahme von kontaminiertem Wasser bzw. Nahrung mit der Folge der Nierenschädigung. Die Strahlungsbelastung bei einem direkten Kontakt mit DU-Teilen (also den äußeren Geschoßresten, z.B. in Form eingedrungener Splitter, bzw. ganzen sogenannten Blindgängern) erreicht nach wenigen Stunden den Jahresgrenzwert für die Bevölkerung und nach rund zwei Wochen den Jahresgrenzwert für sogenannte Stahlungsarbeiter. Diese Gefahrenquelle ist nicht hoch genug einzuschätzen, da durch die hohe Dichte des Uranmetalls selbst kleinste Splitter noch in die Haut eindringen können, gerade bei sogenannten Räumarbeiten.

Die Gefährdung durch die toxische Wirkung bei einem Einatmen der Verbrenungsprodukte ist nur in der unmittelbaren Nähe als nachweisbar aufzufassen. Menschen innerhalb von Angriffszielen werden daher, soweit nicht getötet, einem hohen Risiko der toxischen Kontamination ausgesetzt.

Diese Art der Munition führt also nach der Verwendung zu einer extremen Gefährdung gerade auch der Zivilbevölkerung durch die toxischen Wirkungen und die radioaktiven Wirkungen der Geschoßreste bei direktem Kontakt.

Der Einsatz der entsprechenden Munition verstößt somit sowohl gegen die Bestimmungen des Artikel 35 Absatz 1 des 1. Zusatzprotokolls zu dem Genfer Abkommen, da sie geeignet ist, sowohl überflüssige Verletzungen und Leiden zu verursachen, als auch als giftige Waffen einzuschätzen ist, da eine unmittelbare Vergiftungsgefahr von ihr ausgeht. Ferner verstößt der Einsatz auch gegen die Bestimmungen der langanhaltenden und schweren Schädigung der Umwelt im Sinne des Artikels 55 des 1. Zusatzprotokolls zu dem Genfer Abkommen, da hier eine extrem lange Kontaminierung gegeben ist.

Für den Einsatz der sogenannten DU-Geschosse ist sowohl die Beschaffung als auch die Verwendung der Waffen nur durch die Regierungen auf Grundlage der dies genehmigenden und billigenden Beschlüsse der jeweiligen Parlamente möglich. Der massive Einsatz dieser Munition ist daher nicht nur durch die militärische Führung, sondern durch alle Angeklagten zu verantworten. (34)

Rechtliche Würdigung zum Sachverhalt Teil II.

Die Art und Weise der Kriegführung selbst stellt massive Verstöße gegen das internationale Völkerrecht dar.

Straßen, Schienenwege und Brücken

Natürlich dienen Straßen, Schienenwege und Brücken auch als Transportwege für Militärverbände und als Nachschubwege.

Deshalb aber die Verkehrsinfrastruktur eines ganzen Landes zu militärischen Zielen zu erklären, liegt jenseits des Gebots der Verhältnismäßigkeit. Das gilt um so mehr für Straßen und Brücken im Norden Serbiens, wo doch erklärtermaßen die serbischen Militär- und Sicherheitskräfte in ihrer Operationsfreiheit im Kosovo behindert werden sollten.

Bewertung:

»Militärische Notwendigkeit« und Rechtsschutz klaffen hier eklatant auseinander. Besonders die Zerstörung der Brücken des wichtigen internationalen Wasserwegs Donau, mit weitreichenden wirtschaftlichen Folgen für einige nicht am Konflikt beteiligte Nachbarländer, lag außerhalb jeder Proportion und war somit rechtswidrig. (Verstöße gegen Artikel 35 (1), Artikel 48, Artikel 52, Artikel 54, Artikel 57 des Zusatzprotokolls I)

Angriffe auf Nichtkombattanten

Wie ein roter Faden ziehen sich die Beteuerungen der NATO-Repräsentanten durch ihre Pressekonferenzen, daß sich die »Luftschläge« (air strikes) nicht gegen das serbische Volk richteten. Diese Behauptung ist vordergründig zwar glaubhaft, da von direkten und allzu offensichtlich widerrechtlichen Angriffen auf unschuldige Menschen negative Rückwirkungen auf die politische Unterstützung an der »Heimatfront« befürchtet wurden. Sie ist aber dennoch heuchlerisch, weil zum einen die indirekten Wirkungen auf das Leben und die Gesundheit der Zivilbevölkerung von Zerstörungen, z. B. räumlich und zeitlich versetzt (Beispiel Pancevo), einfach ignoriert wurden, anderseits Wesley Clark selbst zugegeben hat, daß es wichtig sei, daß die zivilen Opfer von Angriffen ihren Ärger gegen ihren Präsidenten richten und wissen, wem sie ihre »Kosten« zu verdanken haben. Mit dieser Aussage wird deutlich, daß ein Teil der serbischen Bevölkerung sehr wohl als Geiseln gegen das Regime mißbraucht wurde. Beim nächtlichen Angriff auf das RTS-Sendegebäude wurde von den Verantwortlichen bewußt in Kauf genommen, daß dabei Zivilpersonen Opfer werden können, da bekanntlich Redaktionen, Studios und Technik rund um die Uhr besetzt sind. So wurden mit bedingtem Vorsatz 16 zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Senders von ca. 150, die sich im Gebäude befanden, getötet. (Verstöße gegen Artikel. 35, Artikel 48, Artikel 50, Artikel 51 und Artikel 52 des Zusatzprotokolls I)

Kollateralschäden

Ein »Kollateralschaden« ist nach dem humanitären Völkerrecht ein ungewollter, aber zur Erreichung eines legalen Angriffs auf ein militärisches Ziel unvermeidbarer »Nebenschaden«, etwa das Zubruchgehen von Fensterscheiben eines dem Ziel nahen zivilen Gebäudes. Der Kollateralschaden muß sich in engen Grenzen halten. Wäre beim Angreifen eines militärischen Ziels der Kollateralschaden unverhältnismäßig hoch, müßte der Angriff unterbleiben. Hier greift die notwendige Güterabwägung zwischen »militärischer Notwendigkeit« und gesetzlich vorgeschriebenem Schutz von Zivilpersonen und zivilen Objekten. Das vorsätzliche Angreifen von zivilen Objekten verursacht keine »Nebenschäden«, sondern Hauptschäden.

Die NATO hat in diesem Krieg tatsächlich echte »Kollateralschäden« zu verhindern gesucht, z.B. durch den Einsatz zielgenauer Waffen. (Verstöße gegen Artikel 57 des Zusatzprotokolls I)

»Besonders wertvolle« und »Strategische Ziele«

Die NATO hat mit der Einführung einer dem humanitären Völkerrecht unbekannten Zielkategorie »high value targets« und »strategic targets« das Verbot der Kriegführung gegen die zivile Infrastruktur des Kriegsgegners systematisch umgangen.

Indem sie in der Erklärung bei Nachfragen von Journalisten zur Verteidigung des Angreifens offenkundig ziviler Objekte noch das Adjektiv »legitimate« hinzugefügt hat, hat sie praktisch das ganze Land für »vogelfrei« erklärt.

Die Begründung liegt im politisch-psychologischen: In einer Diktatur könne man schlecht zwischen ziviler und militärischer Infrastruktur unterscheiden. So war auch die Argumentation von Verteidigungsminister Rudolf Scharping in einer ZDF-Sendung. Da der Diktator alle Ressourcen des Landes einschließlich der menschlichen kontrolliere, dienten alle Einrichtungen des Staates der Machtausübung und Machterhaltung. Wolle man das Regime treffen, müsse man alle Komponenten des Staates ausschalten.

Damit wurde z.B. die Zerstörung des USCE-Bürohochhauses begründet, in dem sich die Parteizentrale der Regierungspartei, der Sozialistischen Partei befunden haben soll.

Zu den sogenannten Strategischen Zielen hat die NATO auch die Autofabrik Zastava in Kragujevac und zahlreiche Fabriken mit rein ziviler Güterproduktion gerechnet.

Soweit die NATO-Verantwortlichen auf die Zweifelhaftigkeit der Zerstörung solcher Einrichtungen, wie z. B. einer Zigarettenfabrik oder einer Lebensmittelfabrik, angesprochen worden sind, haben die Sprecher behauptet, diese Objekte seien militärische Ziele gewesen. Die NATO-Nachrichtendienste hätten angeblich deren militärische Eigenschaft bzw. Funktion festgestellt. In keinem Fall konnten die Sprecher aber trotz wiederholter Nachfrage angeben, welche militärischen Güter dort angeblich hergestellt wurden.

Bewertung:

Das humanitäre Völkerrecht erlaubt eine derartige Uminterpretation »ziviler Objekte« nicht. Außerdem greift Artikel 52 des Zusatzprotokolls, wonach die Einrichtung unmittelbar der Kriegführung dienen muß. Der NATO-Sprecher hat auf Befragen, ob er glaube, daß nach einem Monat Krieg von diesen Parteizentralen im USCE-Hochhaus noch geführt würde, diese Möglichkeit verneint. Er maß der dennoch erfolgten Zerstörung dieses zivilen Objekts den psychologischen Effekt auf die Staatsführung und Bevölkerung zu. (Verstöße gegen Artikel 48, Artikel 52, Artikel 54 und Artikel 57 des Zusatzprotokolls I)

»Null-Opfer-Strategie«

Militäreinsätze im Ausland, bei denen es nicht um Lebensinteressen (nach US-amerikanischen Verständnis »life interest«) geht, benötigen einerseits einen hohen Aufwand an ideologischer Vorbereitung und emotionalisierender Begleitung, andererseits dürfen die gesellschaftlichen Kosten und Opfer (z. B. getötete eigene Soldaten) nicht hoch oder sichtbar sein.

Die USA mußten den Vietnamkrieg sieglos abbrechen, weil aufgrund hoher Personenverluste die gesellschaftliche Unterstützung in den USA wegbrach.

Zur Vermeidung eigener Kriegsopfer blieben die eigenen Flugzeuge während der Zielerfassung und beim Waffeneinsatz möglichst außerhalb der Reichweite der gegnerischen Luftabwehr. Das hatte zur Folge, daß Pilot und Kampfbeobachter nur eine stark eingeschränkte Zielerfassung und Zielerkennung möglich war. Sowohl beim Angriff auf einen zivilen Eisenbahnzug als auch bei der Bekämpfung des Flüchtlingskonvois war die nachher gegenüber der Öffentlichkeit gebrauchte Entschuldigung, daß solche Fehler passieren können, wenn so hoch geflogen werden »muß«.

Bewertung:

Das humanitäre Völkerrecht schreibt vor, daß ein Angriff unterbleiben muß, wenn das angegriffene Ziel nicht eindeutig als militärisches Ziel erkannt worden ist. Bei Abwägung zwischen der »militärischen Notwendigkeit« und dem Rechtsgut Schutz der Zivilbevölkerung mußte in diesen Fällen der Angriff unterbleiben, weil von ihnen nicht der militärische Erfolg bezogen auf die Kriegsziele abhing.

Nach klassischem militärischen Ehrenkodex war dieses Angreiferverhalten feige. Ebenso feige, wie die Beschränkung der NATO auf Luftschläge, die aus Angst vor Verlusten anstelle des Einsatzes mit Bodentruppen gewählt wurden, obwohl sie der Erreichung der Kriegsziele im Kosovo in keiner Weise dienten. (Verstöße gegen Artikel 48, Artikel 51 und Artikel 52 des Zusatzprotokolls I)

Ausschalten der Versorgung mit elektrischer Energie und Fernwärme

Während des Luftkriegs wurden wiederholt Umspannwerke mit neuartigen Graphitbomben sowie Kraft- und Heizwerke angegriffen und vorübergehend ausgeschaltet bzw. zerstört.

Viele lebenswichtige bzw. lebenserhaltende technische Systeme der zivilen Infrastruktur hingen von der Verfügbarkeit von elektrischer Energie ab. Es gab Meldungen, daß in Krankenhäusern Menschen starben, weil wegen des Stromausfalls lebensrettende Maschinen aussetzten. Nicht in jedem Fall waren Notstromaggregate vorhanden oder aber es fehlte an Treibstoff, weil dieser ja ebenfalls vernichtet worden war.

Bei dem Heizkraftwerk in Novi Beograd »Beogradske elektrane«, das ebenfalls zerstört wurde, ist ein Zusammenhang mit der unmittelbaren Unterstützung der Kriegführung auch nicht zu konstruieren. Im Frühjahr und Sommer wird Heizenergie nicht benötigt, weder vom Militär noch von der Zivilbevölkerung.

Bewertung:

Es gibt zwei plausible Erklärungen für die NATO-Angriffe auf diese zivile Infrastruktur: Erstens Terror, mit derselben (immer wieder falschen) Erwartung, daß die in Angst und Schrecken versetzte Zivilbevölkerung des Kriegsgegners ihrer politischen Führung die Gefolgschaft verweigert. Die andere Erklärung, die auch durch die Zerstörung von Lebensmittelfabriken und der Zigarettenfabrik gestützt wird, ist die: Die NATO wollte und will mit der Vernichtung wesentlicher Teile der zivilen Infrastruktur, unterstützt durch die Aufrechterhaltung, ja inzwischen geplante Verschärfung des Embargos, die jugoslawische Wirtschaft zerstören. Diese Vermutung erhält eine weitere Verstärkung mit dem massivsten Angriff auf die Erdölraffinerie in Novi Sad mit 108 Bomben in der Nacht vom 9./10.Juni 1999, zu einem Zeitpunkt, nachdem die Bedingungen für die Beendigung der »Luftschläge« unterschrieben und von jugoslawischer Seite eingehalten worden waren. Auch hier konnte »militärische Notwendigkeit« nicht behauptet werden. (Verstöße gegen Artikel 54, Artikel 55 und Artikel 57 des Zusatzprotokolls I)

Umweltschäden

Mit ihren Angriffen auf Anlagen, bei denen besonders gefährliche Stoffe lagerten, haben die NATO-Staaten zumindest billigend in Kauf genommen, daß schwerwiegende Schäden an der natürlichen Umwelt und als Folge davon Gesundheits- und Erbschäden bei den Menschen eintreten. Tatsächlich ist eine beträchtliche lokale Verseuchung von Boden, Wasser und Luft als Kriegsfolge festgestellt worden.

Bewertung:

Wie bei der Ausschaltung der Stromversorgung zielt auch die Zerstörung von Heizkraftwerken und der Vorräte an Primärenergieträgern auf die Lebensgrundlagen der Menschen, da das Militär besonders kurz- und mittelfristig von den ortsfesten Anlagen nicht abhängig ist. Auch im Zusammenhang mit den völkerrechtswidrigen Angriffen auf diese Einrichtungen behaupten die NATO-Vertreter ganz einfach, daß es sich um militärische, da »high value« oder strategische Ziele handele (Verstöße gegen Artikel 35, Artikel 54 und Artikel 55 des Zusatzprotokolls I)

Gebrauch giftiger und besonders grausamer Waffen

Die NATO-Streitkräfte haben im Kosovo wie zuvor im zweiten Golfkrieg wiederum die von den Vereinten Nationen geächteten DU-Geschosse und Streubomben eingesetzt.

Nachdem zahlreiche Erkrankungen und Erbschäden bei Menschen, besonders Kindern erfaßt und höchstwahrscheinlich der Berührung mit Uran 238 zuzuschreiben sind, war die erneute Verwendung dieser Munition in besonderer Weise zynisch und menschenverachtend.

Dasselbe gilt für die Streubomben, deren Antipersonenmunition wie die verbotenen Schrapnellgeschosse wirken und die eine offiziell zugegebene Versagerquote zwischen fünf und 15 Prozent haben. Die nicht detonierte Submunition verseucht das Einsatzgebiet langanhaltend. Anders als bei Landminenfeldern, deren Lage häufig bekannt ist, liegen die Bombletten der Streubomben an unbekannten Orten in der Landschaft, in Ortschaften, auf Wegen usw. Viele Personen sind im Kosovo bereits Opfer detonierter Bombletten geworden. Viele werden folgen.

Bewertung:

Der Gebrauch von giftigem Uran und der modernen »Dumdumgeschosse« ist ein klarer Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (Verstöße gegen die Nürnberger Prinzipien und gegen Artikel 35, Artikel 48, Artikel 51, Artikel 52, Artikel 55 und Artikel 57 des Zusatzprotokolls I)

Zusammenfassung:

Die durch die verwendete abgereicherte Uran-Munition, aber auch durch die als Ziele ausgewählten Aufbewahrungsorte von chemischen Giften hervorgerufenen Gefahren für die Menschen insgesamt, ohne Trennung von Militär und Zivilbevölkerung, sowie die langfristige Verseuchung der angegriffenen Gebiete stellen jedenfalls Verstöße gegen die Bestimmungen der Artikel 35, 55, 85 des 1. Zusatzprotokolls von 1977 zum Genfer Abkommen dar.

Die vorstehend beispielsweise dargelegten Ereignisse und insbesondere die Rechtfertigungsversuche der NATO belegen, daß bereits im Rahmen der Zielplanung es jedenfalls versäumt wurde, zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Sowohl bei der Auswahl der eingesetzten Waffensysteme als auch bei der Zielauswahl und der operativen Durchführung der Angriffe wurden erhebliche Verletzungen und Leiden der Zivilbevölkerung jedenfalls bewußt in Kauf genommen. Auch erfolgte keine Festlegung gegenüber den Einsatzoffizieren und Leitstellen, daß im Zweifelsfalle Angriffe abzubrechen sind, wenn die Gefahr besteht, daß es sich bei den Zielen um rein zivile Personengruppen handeln könnte.

Dies stellt einen vorsätzlichen schwerwiegenden Bruch der Bestimmungen des Völkerrechts über die Kriegsführung dar.

Auch wenn nach den vorliegenden Dokumenten nicht beweisbar ist, aus den Handlungen das Ziel auf seiten der NATO abzuleiten, Zivilpersonen bzw. zivile Flüchtlinge gezielt anzugreifen, so zeigen doch die Umstände der Angriffe, daß die NATO willens war, zahlreiche zivile Todesopfer zu riskieren, um zu verhindern, daß ein einziges Flugzeug von der jugoslawischen Luftabwehr erfolgreich gezielt angegriffen werden konnte.

Daher verletzen die Handlungen der NATO eindeutig das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Da die Handlungen mit Gewalt gegen individuelles Leben und gegen die Person verbunden sind, stellen sie Verletzungen nach Artikel 3 der Genfer Konventionen von 1949 dar, und führen somit zu individueller strafrechtlicher Verantwortung. Die vorbeschriebenen Vorkommnisse und Vorgehensweisen stellen ebenso eine Verletzung der Artikel 85 Absatz 1 und Absatz 3 des 1. Zusatzprotokolls von 1977 dar.

Angesichts dieser Verletzungshandlungen besteht eine umfassende Strafbarkeit sowohl der Befehlsgeber als auch der Befehlsempfänger.

Die gewollte Mithaftung der jeweiligen Gruppen der Angeklagten ist durch diese jeweils ausdrücklich betont worden.

Derartige Handlungen erfüllen daher den Geltungsbereich von Artikel 5 des Statuts. [Das Statut des Internationalen Europäischen (inoffiziellen) Tribunals über den NATO-Krieg: www.nato-tribunal.de)]

Eine Ausnahme stellen die Mitglieder der verschiedenen Parlamente dar, da in der Zustimmung zu Kriegshandlungen keine explizite Zustimmung zu einer auch in der Art und Weise der Durchführung verbotenen Kriegsführung gesehen werden kann. Es verbleibt insoweit nur bei dem Vorwurf der Zustimmung zu legislativischen Akten, die einen gegen die Bestimmungen des Völkerrechtes begonnnen Militäreinsatz billigten, da mit der Zustimmungshandlung bereits die Zustimmung auch zur Kriegführung entgegen den Bestimmungen der UNO-Charta gegeben worden ist.

Die Anklage wird hiermit dem Tribunal zur Beweisaufnahme freigegeben.

Verfasser der Anklageschrift: Rechtsanwalt Ulrich Dost

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