telegraph 3/99
Der politische Wille zu Krieg
Die Bereitschaft einen Krieg gegen
Tschetchenien zu beginnen, nahm in Moskau so stark zu, dass es vom Kreml und dem
Verteidigungsministerium nicht länger
ignoriert werden konnte. Die russische
Bevölkerung verlangt Vergeltung für
Terroranschläge. Tschetschenische Rebellen werden für
die Anschläge auf Wohnhäuser in ganz
Russland verantwortlich gemacht. Das Ausmaß
der Empörung veranlaßte Mitte-Links-Parteien
und Politiker dazu, sich mit an der Hexenjagd zu beteiligen. Und als ob dem nicht
genug wäre, zeigte das russische Fernsehen
diese Woche Videoaufnahmen von tschetschenischen Rebellen, die russische
Kriegsgefangene während des ersten
Tschetschenienkrieges verstümmelten.
So scheinen die Pläne für die Invasion kurz
vor der Umsetzung zu stehen. Im Westen besteht eine Ablehnung gegen den Krieg, doch hat diese noch nicht einen kritischen Punkt
erreicht, jedenfalls führte sie nicht zur
Entsendung internationaler Beobachter nach Tschetschenien. Obwohl die russischen
Medien den Krieg unterstützen, sind sie
skeptisch über die Kapazitäten der russischen
Armee. Sollte die Bereitschaft abnehmen, könnte
das Verteidigungsministerium nicht mehr in der Lage sein, den harten Winter im Kampf
gegen die Guerillas auszunutzen. Aufgrund der klimatischen Bedingungen sind die
russischen Streitkräfte nicht in der Lage, eine
Offensive über Dezember und Januar hindurch
durchzuhalten. So könnte der zweite Tschetschenien-Krieg zu einem fürchterlichen
Halt kommen, wenn die Russen nicht rechtzeitig mit einer Invasion von Bodentruppen
beginnen.
Luftangriffe auf Tschetschenien
Die Serie von Bombenangriffen auf
Tschetchenien in der letzten Woche zeigte, dass
die russischen Kommandeure vom Debakel von 1994-1996 gelernt haben. Dieses Mal
sollen Luftstreitkräfte die Verstecke von
Rebellen ausfindig machen, bevor die Bodentruppen einmarschieren. Dies ermöglicht der
Luftwaffe Angriffe zu unterstützen bzw. Truppen
zu evakuieren. So wird auch das Risiko von feindlichen Angriffen aus der Luft minimiert, die erwiesenermaßen die größte Bedrohung
für russische Truppen im ersten Krieg waren. Mehr SU-34er werden verwendet, um
den Bodentruppen Deckung von den modernsten russischen Waffen zu geben.
Die Zerstörung der tschetschenischen
Infrastruktur war eine schlecht koordinierte, aber effektive Maßnahme. Mehr als 1.500
Einsätze wurden über Dagestan und
Tschetschenien in den letzten zwei Wochen geflogen,
mit einer starken Offensive über
Tschetschenien am 23. September. Die Regierung
definiert "militärische Ziele" ungenau als Häuser,
Brücken, Krankenhäuser, Fernsehstationen,
Radiostationen und Radarsender.
Die Ziele werden aus zwei Gründen
gewählt: um die Zivilisten von dem Territorium
zu vertreiben und um zu verhindern, daß
unliebsame Informationen aus Tschetschenien gelangen können. Die hohe Rate an
zivilen Opfern im letzten Tschetschenienkrieg
brachte die internationale Gemeinschaft -und Russen- gegen den Krieg auf. Indem jede
Form von Kommunikation zwischen Tschetschenien und dem Rest der Welt
unterbunden wird, kann Russland eine völlige Informationsblockade schaffen.
Die Invasion der Bodentruppen
Die russischen Strategen haben auch
noch nicht ihre Erkenntnisse aus dem vorherigen Krieg in Tschetschenien in der Praxis
getestet. Nimmt man Dagestan als Maßstab, dann
haben die russischen Streitkräfte Probleme
beim Befehlen und Kontrollieren von
Einsätzen. Ein zentrales Problem war in Dagestan
die Unterschiedlichkeit der Ausbildung innerhalb kombinierter Einheiten. Teilweise
arbeiteten Luftlandetruppen eng zusammen mit regulärer Infanterie und Freiwilligen
aus Dagestan. Der Zusammenbruch der Disziplin und die Unerfahrenheit gefährdeten die
Luftlandetruppen in Kampfhandlungen.
Die Planungen für die Bodenoffensive
sind dieses Mal wesentlich besser gewesen. Aber die russische Armee hat nicht so viel
gelernt, wie die Rebellen innerhalb der letzten
fünf Jahre, durch das Führen eines
Informationskrieges und das Veranlassen der Flucht
der Zivilbevölkerung. Die Einheiten der Rebellen sammelten Erfahrungen durch die
Auseinandersetzungen mit Dagestan. Nur wenige russische Kommandeure sind sich bewußt, daß dieser Krieg dem vorherigen nicht
gleicht. Die Rebellen können sehr schnell ihre
Taktik ändern und sind sehr mobil in der
Kriegsführung. Russlands wesentliche Schwäche
besteht in der organisatorischen Struktur der bewaffneten Einheiten. Dieses Problem
können Planungen allein nicht lösen. |