junge Welt - Titel - 19.11.1999
Krieger gegen Krieger:
Jelzin trotzt der NATO
Russischer Präsident verließ
nach westlichen Anwürfen OSZE-Gipfel in Istanbul
jW-Bericht
Für einen Paukenschlag sorgte der russische Präsident Boris
Jelzin am Donnerstag auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul: Am Nachmittag verließ
der Staatschef das Treffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in der türkischen Metropole. Die frühzeitige Abreise des Staatschefs
von der zweitägigen Veranstaltung sei bereits lange geplant gewesen,
erklärten Mitglieder der russischen Delegation. Allerdings wurde allgemein
vermutet, der Aufbruch Jelzins stehe im Zusammenhang mit den massiven Angriffen
des Westens gegen das russische Vorgehen in Tschetschenien. Bereits im
Laufe des Donnerstags hatte sich Rußlands Präsident bei bilateralen
Gesprächen mit US-Präsident Clinton und Bundeskanzler Schröder
westliche Vorgaben für die russische Politik verbeten. So war das
Treffen mit Schröder bereits nach zehn Minuten beendet.
Offenbar war die »Anklage« gegen Rußland auf dem
OSZE-Treffen bereits langfristig vorbereitet. Dabei »übersahen«
die westlichen Politiker geflissentlich ihre eigenen Kriegsabenteuer, wie
etwa in Jugoslawien. Schon zu Wochenbeginn hatten sich verschiedene Politiker
des Westens, insbesondere aus den USA, dafür ausgesprochen, Rußland
in Instanbul an den Pranger zu stellen. So war unter anderem von Moskau
verlangt worden, einen detaillierten Abzugsplan aus Tschetschenien vorzulegen.
Gegen diese Einmischung in innere Angelegenheiten hatten russische Regierungsvertreter
vehement protestiert; eine Absage Jelzins an das Gipfeltreffen wurde aber
trotz der schon im Vorfeld vergifteten Atmosphäre nicht erwogen.
Der russische Präsident nutzte denn auch in Istanbul die Gelegenheit,
die Position Moskaus im Tschetschenien-Konflikt zu verdeutlichen. Jelzin
sagte, der Westen habe kein Recht, Moskau wegen des Krieges zu kritisieren.
Rußland wolle Frieden und eine politische Lösung in Tschetschenien.
Dies sei jedoch nur möglich, wenn die bewaffneten Banden und Terroristen
eliminiert seien. Ansonsten drohe sich der Terrorismus über die Grenzen
der Russischen Föderation hinaus auszuweiten. Gleichzeitig bekundete
er jedoch seine Absicht, die geplante Sicherheitscharta zu unterzeichnen.
Neben dem Tschetschenien-Krieg gelten die Unterzeichnung dieses Dokuments
und eines Vertrages über konventionelle Waffen (KSE-Vertrag) als wichtigste
Punkte des Gipfels.
Allerdings standen die Chancen für eine Unterzeichnung der Sicherheitscharta
am Donnerstag nachmittag nicht gut. Wegen des Streits um den Tschetschenien-Konflikt
wurde die Unterzeichnung verschoben. Der amtierende OSZE-Vorsitzende Knut
Vollebaek teilte mit, die Charta solle nun erst am heutigen Freitag unterzeichnet
werden. Die Verschiebung wurde nötig, weil der französische Präsident
Jacques Chirac drohte, die Charta nicht zu unterzeichnen, solange Rußland
nicht beim Thema Tschetschenien einlenke. Wie dies nun bei Abwesenheit
Jelzins geschehen soll, ist unklar.
Unterdessen gingen die Kämpfe in Tschetschenien weiter. Die russische
Luftwaffe war in der Nacht zum Donnerstag wieder schwere Bombenangriffe
auf die Hauptstadt Grosny geflogen. Nach einem Bericht des Fernsehsenders
NTV nahm die russische Armee die Stadt Atschkoi-Martan ein. Das russische
Verteidigungsministerium wies Vorwürfe zurück, wonach russische
Kampfhubschrauber am Vortag in den georgischen Luftraum eingedrungen seien
und einen Grenzposten beschossen hätten. Wie die russische Nachrichtenagentur
Interfax unter Berufung auf Militärs mitteilte, sollten die Angriffe
auch während des OSZE- Gipfels unvermindert weitergehen.
<http://www.jungewelt.de/1999/11-19/001.shtml>
junge Welt - Kommentar - 19.11.1999
Gut gebrummt, Bär
Jelzin-Eklat auf OSZE-Konferenz in Istanbul. Kommentar
So auf du und du geht offenbar nichts mehr zwischen
Rußlands Jelzin und den Mächtigen im Westen. »Sie haben
nicht das Recht, Rußland zu kritisieren«, sagte der russische
Präsident den auf der OSZE-Konferenz in Istanbul versammelten Staats-
und Regierungschefs. Welch unangemessene Folgen eine Einmischung von außen
habe, sei mit der NATO-Intervention im Kosovo deutlich geworden, fügte
er hinzu. Gut gebrummt, russischer Bär.
Das Kosovo ist seitdem nur noch auf dem Papier ein Bestandteil Jugoslawiens,
was zumindest erahnen läßt, was westliche Befriedungspolitiker
im russischen Nordkaukasus zu leisten imstande wären, ließe
man sie zum Zug kommen. Das Bestreben, den Tschetschenien- Konflikt zu
internationalisieren und sich damit langfristig Interventionsmöglichkeiten,
bis hin zu bewaffnetem Eingreifen, zu erarbeiten, ist jedenfalls offenkundig.
Zu einer realen Option würde dies aber erst dann werden, wenn in Rußland
eine dramatische Veränderung der innenpolitischen Situation zuungunsten
der »Westler«- Fraktion einträte.
Auch wenn Jelzin noch so ekstatisch mit dem Pappschwert großer Worte
herumfuchtelt: Das Risiko, neben Milosevic auf die Kriegsverbrecherliste
gesetzt zu werden, geht er damit nicht ein. Obwohl das Vorgehen der russischen
Armee gegen den tschetschenischen Terrorismus um einiges flächenübergreifender
und rücksichtsloser erfolgt als der inzwischen durch höhere Gewalt
gestoppte Kampf der serbischen Militärkräfte gegen den UCK-Terror.
Niemand wolle die territoriale Integrität Rußlands in Frage
stellen, sagte Schröder in Istanbul. Auch verurteile man einhellig
den Terrorismus. »Krieg ist aber kein Mittel zur Beseitigung des
Terrorismus.« Den Beweis dafür mußte Schröder schuldig
bleiben. Denn sonst hätte er sagen müssen, daß der von
ihm maßgeblich mitverantwortete Krieg der NATO gegen Jugoslawien
den UCK-Terrorismus nicht nur nicht beseitigt, sondern erst zur vollen
Entfaltung gebracht hat. Und das keineswegs unbeabsichtigt.
Das macht Jelzins Attacken auf »Banditen und Mörder« nicht
glaubwürdiger. Denn das den Bestand des russischen Staates gefährdende
Banditentum hat sich nicht auf exterritorialem Gebiet entwickelt, sondern
im Milieu der kriminellen Umverteilung des Volkseigentums. Um den Kreml
entstand das mit dem IWF verfilzte Schattenreich der Oligarchen. So ist
Boris Nikolajewitsch Jelzin am Ende seiner abenteuerlichen Karriere zum
Kampf gegen sich selbst angetreten. Dem Repräsentanten russischer
Staatsinteressen sind gegen den Räuberhäuptling von Clintons
Gnaden nur wenig Chancen einzuräumen.
Werner Pirker
<http://www.jungewelt.de/1999/11-19/003.shtml>
Kommentar Red.:
warum sollte man tausende von aufstaendigen niederschiessen,
wenn es zur wiederherstellung der ordnung genuegt,
zehn menschen an die wand zu stellen?
(roul vaneigem, an die lebenden)
Dokumentation
zu Fakten und Hintergründen des Tschetschenien-Konflikts |