Jungle World 1. März 2000

Vier Sterne für ein Hallelujah

Die russische Armee führt in Tschetschenien einen siegreichen Feldzug. Trotz der Militärzensur sickern immer mehr Informationen durch, die ein anderes Bild vom Kriege zeichnen.

von jörn schulz

General Wiktor Kasanzew, der Oberkommandierende des Tschetschenien-Feldzuges, darf jetzt vier Sterne auf seinen Schulterstücken tragen. Verteidigungsminister Igor Sergejew beförderte ihn und andere hohe Offiziere am 21. Februar bei einer Siegesparade in den Ruinen Grosnys. »Die letzte Phase der militärischen Operation«, erklärte Sergejew bei dieser Gelegenheit, sei »ein weiterer Erfolg«. Am folgenden Tag wetterte der amtierende Präsident Wladimir Putin gegen die Berichte über einen Verfall der Armee: »Dies ist unfair und respektlos gegenüber unseren Soldaten und Offizieren.«

Putin muss zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen am 26. März der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, dass die russische Armee siegreich ist. Trotz aller Bemühungen der Militärzensur aber sickern immer mehr Informationen durch, die ein anderes Bild vom Kriege zeichnen. Putin erklärte es schon zum Vaterlandsverrat, die offiziellen Angaben über die geringen Verluste der russischen Armee anzuzweifeln: »Wir dürfen nicht zulassen, dass die These von außergewöhnlichen Verlusten zum moralischen Schaden der Gesellschaft weiter Schwung gewinnt.« Die Vorsitzende des Komitees der Soldatenmütter, Walentina Melnikowa, etwa spricht von mindestens 3 500 gefallenen russischen Soldaten.

Verheerender noch könnten sich Enthüllungen über die Vorgeschichte des Krieges auswirken. Sergej Stepaschin, Premierminister von Mai bis August 1999, erklärte Mitte Januar, ein Einmarsch in Tschetschenien sei seit März 1999 vorbereitet worden. Damit kam einmal mehr die Frage auf, ob die Bombenanschläge auf russische Wohnhäuser, die sich so trefflich in die Eskalationsstrategie einfügten, wirklich von tschetschenischen Islamisten begangen wurden. Auch in der zweiten Rechtfertigung für den russischen Einmarsch, der Offensive des islamistischen Warlords Schamil Bassajew in Dagestan, sehen viele Oppositionelle ein mit der russischen Regierung abgesprochenes Unternehmen.

Mögen die genauen Umstände noch unklar sein, so ist doch heute sicher, dass die Falken in der russischen Oligarchie eine gezielte Eskalationspolitik betrieben. Und tschetschenische Warlords arbeiteten ihnen bewusst oder unbewusst zu. Mit Hilfe des Krieges wurde der zuvor fast unbekannte Putin zum starken Mann aufgebaut: Eine Niederlage in Tschetschenien kann er sich daher nicht leisten.

Die russische Führung weiß jedoch, dass sie sich auf einen längeren Guerilla-Krieg einstellen muss. In den eroberten Gebieten haben sich die russischen Truppen eingegraben und »Filtrationslager« errichtet. Die Armee führt Massenverhaftungen durch, um anschließend durch Folter und Mord die Partisanen »herauszufiltern«. Die Ankündigung, Grosny nicht wieder aufzubauen, und das Verbot für Flüchtlinge, in die Stadt zurückzukehren, deuten darauf hin, dass die schwer kontrollierbaren Landesteile menschenleer gehalten werden sollen. Ernsthafte Bemühungen, Verbündete in der tschetschenischen Gesellschaft zu gewinnen, gibt es nicht.

Die russische Regierung glaubt, die Tschetschenien-Frage allein militärisch lösen zu können. Russland setzt mehr als 140 000 Soldaten ein, doppelt so viele wie im ersten Krieg. Ihnen standen zu Kriegsbeginn 15 000 bis 20 000 tschetschenische Kämpfer gegenüber, ohne Luftwaffe und mit nur wenigen schweren Waffen. Bei einem so ungleichen Kräfteverhältnis verlegt sich die unterlegene Seite in der Regel sofort auf eine Guerilla-Taktik. Die tschetschenischen Truppen führten jedoch in Grosny vor ihrem Rückzug einen dreimonatigen Stellungskrieg und können ihre Stellungen in den südtschetschenischen Bergen noch immer behaupten.

Insofern verdankt General Kasanzew seinen vierten Stern eher Putins Wahlkampf als seinen militärischen Leistungen. Wie im ersten Krieg gibt es zwischen den Truppen des Innen- und des Verteidigungsministeriums mehr Konkurrenz als Kooperation, wieder setzt die Armee schlecht ausgebildete Wehrpflichtige als Kanonenfutter ein. Nur ein Teil der Kampffahrzeuge ist betriebsbereit, es fehlt an Munition, häufig sogar an Nahrungsmitteln. Die Truppen des Innenministeriums tun sich, so die Angaben von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, durch Terror gegen die Zivilbevölkerung hervor. Ihre Kampfbereitschaft dagegen hält sich in Grenzen.

So weigerte sich am 18. Januar ein Bataillon des Innenministeriums, gegen tschetschenische Stellungen in Grosny vorzurücken. Generalmajor Michail Malofejew eilte daraufhin zu seinen Truppen, um ihren Kampfgeist zu heben. Als Malofejew bei einem Gefecht von einer Kugel getroffen wurde, zog sich das Bataillon sogar zurück, ohne ihn zu bergen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bescheinigte ihm am 25. Januar, er sei einen »heldenhaften Tod« gestorben. Am selben Tag übernahm ein Armeegeneral das Kommando über die Truppen des Innenministeriums.

Das wichtigste russische Kriegsziel ist jetzt, die tschetschenischen Truppen zur Aufgabe ihres Stellungskrieges zu zwingen, und das möglichst vor dem 26. März. Anders als Häuser lassen sich Berge nicht einäschern, die russische Armee kann ihre technologische Überlegenheit schlechter zur Geltung bringen. Entscheidend ist daher die Abriegelung der Grenze zu Georgien, um den tschetschenischen Truppen den Nachschub abzuschneiden. Auf längere Sicht kann die russische Armee mit ihrer erdrückenden Übermacht die tschetschenischen Stellungen erobern, eine vollständige Isolierung der tschetschenischen Kämpfer dagegen ist unwahrscheinlich.

Bassajew gibt sich hier nicht ganz zu Unrecht selbstbewusst: »Wenn die Russen nicht in der Lage waren, mit einer Streitmacht von 100 000 Soldaten einen vollständigen Belagerungsring um die Hauptstadt zu ziehen, werden sie niemals in der Lage sein, das zerklüftete Gebirgsterrain zu blockieren.« Der Übergang zum Guerillakrieg ist bereits propagandistisch vorbereitet. »Jihad in Chechnya«, eine der beiden Websites der tschetschenischen Islamisten, verbreitet Durchhalteparolen und kündigt die Fortsetzung der Kämpfe an, »selbst wenn der Krieg hundert Jahre dauert und hunderttausend Leben kostet«.

Mit der Verlagerung der Kämpfe in den Süden rückt der Krieg näher an die georgische Grenze. Dort hatte die russische Armee im Dezember Fallschirmjäger abgesetzt, die aber selbst nach offiziellen Angaben erst ein Viertel der Grenze kontrollieren. Tschetschenische Angaben, die Truppe sei aufgerieben, sind wahrscheinlich übertrieben, Russland scheint aber Schwierigkeiten zu haben, die Soldaten aus der Luft zu versorgen.

Somit liegt es nahe, den Nachschub über die Militärbasen zu organisieren, die Russland noch in Georgien unterhält. Am 11. Januar stoppte die georgische Polizei einen russischen Konvoi mit Waffen und Munition beladener Lkw. Nach Angaben der georgischen Behörden hatten die russischen Soldaten geplant, die Waffen an tschetschenische Kämpfer zu verkaufen. Wahrscheinlicher ist in diesem Fall jedoch, dass Georgien eine Lieferung für die russischen Fallschirmjäger abfing.

Seit Oktober 1999 drängt die russische Regierung erfolglos auf eine gemeinsame Überwachung der Grenze. Georgien, das als zukünftiges Nato-Mitglied im Gespräch ist, hat sich bislang geweigert, sein Territorium für Operationen russischer Truppen zur Verfügung zu stellen. Es ist nicht sicher, ob Putin diese Position respektieren wird. Die russische Regierung wirft Georgien vor, Basen zu dulden, von denen aus mit zwei Hubschraubern regelmäßig Nachschub nach Tschetschenien geflogen wird. Georgien bestreitet das, zweifellos aber gibt es tschetschenische Nachschublinien von georgischem Territorium aus.

Ob die georgische Regierung unwillig oder unfähig ist, tschetschenische Versorgungsoperationen zu stoppen, ist unklar. Nach dem Ende der separatistischen Kämpfe Mitte der neunziger Jahre blieb die politische Lage in Georgien instabil, die Zentralregierung hat nicht die volle Kontrolle über alle Teile des Landes. Die Politik des Präsidenten Eduard Schewardnadse schwankt zwischen Zugeständnissen an Russland und einer engeren Anlehnung an die USA und die Nato. Nachdem er am 25. Januar überraschend die Wahl Putins zum Vorsitzenden der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten unterstützt hatte, empfing er Anfang Februar Vertreter der USA und der Nato. Für dieses Jahr sind gemeinsame Manöver mit US-Truppen geplant.

Sollte es zu einem russischen Vorstoß über die Grenze kommen, würde sich die bislang konziliante Haltung des Westens drastisch ändern. Innenpolitisch lässt man Russland freie Hand, ein Vordringen in Richtung auf die Nato-Pipeline Baku-Ceyhan aber würde den Tschetschenien-Krieg zu einem weltpolitischen Konflikt machen.

http://www.jungle-world.com/

Gegen-Informations-Büro
Zurück!