Gegen-Informations-Büro

NOVO-Artikel widerlegt Scharpings Lügen

Die Zeitschrift NOVO bringt in ihrer jüngsten Ausgabe einen Beitrag ihres Chefredakteurs Thomas Deichmann, in dem Aussagen von Scharping mit mittlerweile gesicherten Erkenntnissen konfrontiert werden. Eine detailreiche und gewissenhafte Recherche.

Scharping-Lügen haben kurze Beine

Von Thomas Deichmann.

Ein Resümee von 15 Monaten rot-grüner Regierungsarbeit lautet, dass die Koalition eigentlich nur dann von miserabler Presse und Wahlniederlagen verschont blieb, wenn es anderswo noch gewaltiger als im eigenen Gebälk krachte. So war es zu Beginn der Amtszeit im Frühjahr 1999 den NATO-Bomben gegen Jugoslawien zu verdanken, dass sich das von internen Zerwürfnissen und Strategielosigkeit gebeutelte Regierungsteam kurzzeitig stabilisieren konnte. Wenige Monate später folgte die CDU-Spendenaffäre. Während letztere Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen Mannen in den Schoß fiel, musste der deutsche Waffengang zuvor noch durch massive Anstrengungen zu einem PR-Erfolg gemacht werden. Maßgeblich dazu bei trug Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich als unermüdlicher Primus der deutschen Kriegspropaganda erwies.

Scharpings seit letztem Herbst vorliegendes Buch Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa (Ullstein Verlag Berlin) belegt in befremdlicher Offenheit, wie tief der Minister während der Bombardements in die Lügenkiste gegriffen hatte. Erstaunlich ist, dass er (anscheinend fest davon überzeugt, für die Menschheit Heroisches geleistet zu haben) selbst nach Kriegsende nicht davon abließ, dafür auch die abgedroschensten Geschichten niederzuschreiben, statt sie geflissentlich in Vergessenheit geraten zu lassen. Und offenbar benebelt von missionarischem Eifer verstieg sich der Chef der Bundeswehr sogar dazu, seine Ausführungen mit Zitaten des jugoslawischen Nobelpreisträgers Ivo Andric aus Die Brücke über die Drina zu verzieren - ein peinliches und zugleich schäbiges Vergehen am Werk eines bedeutenden Poeten. So findet sich im 270-seitigen Scharping-Traktat auch folgendes Zitat, das an Äußerungen des einstigen CDU-Aufstrebers und "Serbenfressers" Stefan Schwarz zu Zeiten des Bosnienkriegs erinnert:

"Sollen all die Schlächtereien, die es dort gibt, übersehen werden? Ist das alles nur Erfindung und Propaganda, was uns Menschen erzählen: dass man die Leichen mit Baseballschlägern zertrümmert, dass man ihnen die Gliedmaßen abtrennt und die Köpfe abschlägt? ...offenbar sind Menschen im Blutrausch zu fast jeder Bestialität fähig, spielen mit abgeschnittenen Köpfen Fußball, zerstückeln Leichen, schneiden getöteten Schwangeren den Fötus aus dem Leib." (S.125f)

Welch miserable Berater musste der Verteidigungsminister haben? Nun ist dieser hysterische Nonsens schwarz auf weiß in einem Art Tagebuch dokumentiert. Eines steht fest: Ein Mann mit seiner Mentalität, der sein Handeln mit fragwürdigem Halbwissen begründet und moralisch hyperventiliert, sollte Erweckungsprediger werden und die Hände von der Politik lassen. Wir dürfen nicht wegsehen verdeutlicht, dass es ihm und seinen Mitstreitern während der Kriegsmonate vornehmlich darum ging, das Trugbild der ehrenvollen westlichen Streitmacht, der es um die Verhinderung eines "neuen Auschwitz" ging, beständig zu neuem Glanz aufzupolieren. Die serbischen Führungskräfte in Politik und Militär wurden zu diesem Zweck als Nazi-Barbaren gebrandmarkt.

Dass solche geschichtsträchtigen Vergleiche in besonderem Maße die Verlautbarungen der offiziellen deutschen Politik prägten, hatte seine Gründe. Diese zu vergegenwärtigen ist aufschlußreich, denn der Blick darauf verdeutlicht, aus welch fauligem Holz die "Modernisierer-Koalition" geschnitzt ist. Nach einem Exkurs in die Prä-CDU-Affärenepoche werden Scharping-Äußerungen aus Wir dürfen nicht wegsehen vorgestellt und kommentiert. Genau hinsehen lohnt sich: man erkennt den hohen Grad an Verblendung, die sich hinter der Maske des fürsorglichen Humanitätsritters verbirgt.

Bewährungsproben

"Wir haben es diesmal mit einer deutschen Regierung zu tun, die willentlich und mit Überzeugung in diesen Krieg gegangen ist. Und in dieser Situation erreicht der Propaganda-Apparat eine neue Qualität. Ich habe noch keinen Verteidigungsminister erlebt, der wie Herr Scharping mit Fotos vor die Presse gegangen ist und uns aufforderte, genau das zu beschreiben, was auch er daraus erkenne. Der in Interviews keine Zwischenfragen mehr zulassen will. Als müsse er sich selbst von dem überzeugen, was er da sagt." (M - Menschen machen Medien, 7/99, S.16ff)

So schilderte Albrecht Reinhard, Chef der Programmgruppe Ausland beim WDR, das neue Problemverhältnis zwischen Politik und Medien in Deutschland. Für die politische Elite hierzulande war der Krieg gegen Jugoslawien in der Tat ein gravierender Einschnitt, denn die moralische und politische Absage an deutschen Militarismus hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Kultur des Landes maßgeblich geprägt. Vorbehalte gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr wurden in den letzten zehn Jahren zwar mit Hilfe der Menschenrechtsrhetorik weitgehend neutralisiert. Dennoch war die Herstellung von Akzeptanz für den Waffengang noch längst keine Routineangelegenheit zumal er sich gegen ein Land richtete, in dem der deutsche Faschismus brutal gewütet hatte. Verkompliziert wurde die Lage dadurch, dass diese bedeutende Zäsur für die politische Kultur Deutschlands mit einem Bruch des Völkerrechts und der deutschen Verfassung einherging - beides ebenfalls regulative Prinzipien, deren Wurzeln in der Reaktion auf die Gräuel der Nazi-Zeit liegen. Überdies wurde über den ersten scharfen Marschbefehl für deutsche Soldaten seit 1945 ausgerechnet von den Parteien entschieden, die sich stark mit dieser liberalen Tradition der Bundesrepublik identifizierten. So kam dem Sozialdemokraten Scharping und dem grünen Außenminister Joschka Fischer, der sich, noch auf der Oppositionsbank, während des Bosnienkrieges mit Hinweisen auf den Holocaust gegen die Entsendung deutscher Truppen auf den Balkan ausgesprochen hatte, nunmehr die Aufgabe zu, die deutsche Beteiligung an einem solchen Unternehmen zu begründen. Die SPD hatte mit pazifistischem Ballast freilich weniger Probleme. An ihr zeigte sich jedoch ein anderes Manko: Schröder hatte im Wahlkampf 1998 durchaus erfolgreich die "inhaltslose" Politik eines Tony Blair und Bill Clinton kopiert. Man bestellte Wahlkampfstrategen, die Parteikongresse und Schröder-Auftritte zu reinen Medieninszenierungen degradierten. Die SPD traf mit ihrem Wahlkampf zwar den Nerv der Zeit, deutlich wurde aber schon bald nach dem Urnengang, dass derartige Politikinszenierungen in Deutschland noch wenig erprobt waren. Die neue Regierungskoalition leistete sich alsbald eine Blamage nach der anderen, und "Nachbessern" wurde im Frühjahr 1999 zum neuen Unwort. Die Krise von Rot-Grün fand kurz vor Beginn des NATO-Krieges einen dramatischen Höhepunkt, als der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Oskar Lafontaine von seinem Amt zurücktrat.

Die Regierungskoalition stand zu diesem Zeitpunkt unter enormem Legitimationsdruck, und sie griff in dieser Situation lieber zu den Waffen. Der Kriegseintritt gegen Jugoslawien bot die Chance, die Regierungskrise im eigenen Land vorübergehend hinter sich zu lassen und sich neu zu sortieren und zu profilieren. Zwar wurde sicher keine bewusste Entscheidung mit einer solchen Zielsetzung gefällt. Aber der desolate Zustand der jungen Schröder-Mannschaft dürfte eine bedeutende Rolle gespielt haben, als über das Ja oder Nein des Bundeswehreinsatzes beraten wurde.

Die Mischung aus Strategieproblemen und ersten Zerfallserscheinungen der neuen Regierung sowie die Notwendigkeit, verbliebene Zweifel an der Berechtigung von Bundeswehreinsätzen auszuräumen, führte dann auch zu Überreaktionen, die mitunter fanatische Züge annahmen. Wie in kaum einem anderen Land wurde in Deutschland von der politischen Elite das Vokabular des Holocaust instrumentalisiert, um den Krieg der NATO und den Einsatz der Bundeswehr moralisch zu legitimieren. Dahinter verbarg sich tiefe Verunsicherung, die nur langsam überwunden wurde, denn man konnte die Bombardements nicht selbstbewusst als Strafaktion gegen Milosevic deklarieren, da dies dem Streben, einen "ehrwürdigen" und versöhnenden Konsens zu etablieren, nicht entsprochen hätte. Eine solche Haltung hätte vielmehr neue Konflikte und Auseinandersetzungen heraufbeschworen.

Man wollte zeigen, dass man nur schweren Herzens in den Krieg zog. Moralisierende Begründungen des Krieges standen folglich im Mittelpunkt. Die deutsche Kriegsbeteiligung wurde wie eine Messe zelebriert, so als ginge es darum, die Menschheit vom Bösen zu befreien. So ist auch das Motto, das Scharping für sein Buch wählte, von "Moral" durchtränkt:

"Wenn wir es nicht schaffen, der Moral die politischen Instrumente zu geben und der Politik die Moral, dann haben wir genau jene Teilung, vor der ich persönlich Angst habe. Dann wird nämlich die Reklamation der Moral folgenlos. Dann gerät die Politik zur kalten Technokratie." (S.9)

Mit dieser Überdosis "Moral" wartete Scharping während der Kriegswochen mit immer neuen Horrorgeschichten und Parallelen zwischen Serbien und dem Dritten Reich auf. Die deutsche Publizistin Cora Stephan hielt unterdessen der Argumentationslinie von Rot-Grün entgegen, Moral sei, "überspitzt gesagt, das Mittel desjenigen, der sonst keine guten Argumente" habe (s. Novo42, 9-10/99). Und der Wiener Philosoph Rudolf Burger kommentierte treffend: "Es dauert nicht mehr lange, dann werden sie sagen, sie führen einen Präventivkrieg. (Rudolf Burger: "Nicht das 'Volk' hat die Ultimaten gestellt", Der Standard, 3.4.99, S.39; http://www.DerStandard.at)

Lügenmaschine

Ein Großteil der Meldungen, die Scharping in diesem politischen Kontext präsentierte, hätte schon während der Kriegsmonate einem kritischen Hinterfragen nicht standgehalten. Einige Äußerungen wurden früher oder später als Falschmeldung oder Manipulationsversuch entlarvt - etliche fanden dennoch Einzug in sein Buch Wir dürfen nicht wegsehen. Die westlichen Kriegsführer bedienten sich weitgehend aus dem Informationspool der NATO. Deren Strategen wurden von amerikanischen PR-Firmen und der "International Public Information Group"(IPI) unterstützt - eine von der US-Regierung eigens eingerichtete Arbeitsgruppe aus Militärs, Diplomaten und Geheimdienstleuten mit dem Auftrag, "Emotionen, Motive, objektives Hinterfragen und letztlich das Verhalten ausländischer Regierungen, Organisationen, Gruppen und Individuen zu beeinflussen" (Washington Times, 28.1.99). Möglicherweise war Scharping auch "Opfer" des IPI. Im folgenden werden Behauptungen von ihm aus seinem Buch zitiert und mit gesicherten Erkenntnissen konfrontiert.

1. Konzentrationslager in Pristina

"Im Fußballstadion von Pristina sollen nach wie vor Albaner festgehalten werden. Das Stadion sei teilweise unterkellert. Unter den Schrägen der Tribünen waren mehrere kleinere Geschäfte. Diese Räumlichkeiten boten Platz für mehrere tausend Leute. Am 1. April 1999 seien die ersten Albaner ins Stadion gebracht worden." (Eintrag 19.4.99, S.128)

Gleich zu Beginn des Krieges redet Scharping von "ernst zu nehmenden Hinweisen auf Konzentrationslager im Kosovo" mit dem Zusatz: "Ich sage bewusst KZ". Scharping meint, dass das Fußballstadion von Pristina möglicherweise in ein serbisches Konzentrationslager mit 100.000 Menschen verwandelt worden sei. Diese Propagandameldung wie auch die, einflußreiche kosovo-albanische Intellektuelle würden in Pristina systematisch vom serbischem Militär ermordet, stammen von der UCK. Sie werden dennoch von Scharping verbreitet. Wenige Tage später tauchen zahlreiche Todgeglaubte wieder auf. Und Aufnahmen von deutschen Aufklärungs-Drohnen widerlegen die Behauptung eines Konzentrationslagers im Stadion von Pristina. Angemessene Dementis bleiben aus, KZ-Geschichten machen weiter die Runde.

2. Operation Hufeisen

"Erhalte von Joschka aus Geheimdienstquellen ein Papier, das die Vorbereitungen und die Durchführung der 'Operation Hufeisen' der jugoslawischen Armee belegt...Die Auswertung des Operationsplans 'Hufeisen' liegt vor. Endlich haben wir den Beweis dafür, dass schon im Dezember 1998 eine systematische Säuberung des Kosovo und die Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant waren..." (Einträge 5.&7.4.99, S.102&107)

Während andere Politiker bei der Anwendung des Begriffs "Völkermord" auf den Kosovo-Konflikt Zurückhaltung zeigen, wiederholt Scharping beständig seine These, im Kosovo werde ein solcher "nicht nur vorbereitet", sondern sei von langer Hand geplant und "eigentlich schon im Gange" (S.84). Anfang April präsentiert er zur Untermauerung dubiose Dokumente über einen Operationsplan "Hufeisen" (www.bundeswehr.de/kosovo/hufeisen.html). Monate später stellt sich heraus, dass die besagten Papiere vom bulgarischen Geheimdienst stammten und Joschka Fischer über das Außenministerium in Sofia zugespielt wurden (Spiegel, 2/2000). Die bulgarische Regierung wünscht, in die NATO aufgenommen zu werden und versuchte während des Krieges, die Gunst der Westmächte zu gewinnen.

3. Killing Fields und Leichenberge

"Die Brutalität eskaliert, die Fliehenden ziehen buchstäblich an Bergen von Leichen vorbei. Mir geht eine alte Angst durch den Kopf: Dieser Verbrecher will einen Waffenstillstand auf dem Friedhof." (Eintrag 29.4.99, S.141)

Die kriegsführenden Westmächte begründen die anhaltenden Bombardements u.a. damit, sie würden die "ethnischen Säuberungen" im Kosovo stoppen. Während NATO-Sprecher Jamie Shea das Kosovo mit den kambodschanischen "Killing Fields" vergleicht, redet Scharping von "Leichenbergen". Angaben über die von serbischen Milizen angeblich ermordeten und in Massengräbern verscharrten Kosovo-Albaner werden ständig überboten. Anfang April bringt das US State Department zunächst die Zahl 500.000 in Umlauf. Am 18. April meint David Scheffer, US-Botschafter für Kriegsverbrechen, dass möglicherweise bis zu 100.000 Albaner umgebracht worden seien. Tags drauf wiederholt auch US-Sprecher James Rubin diese Spekulation. Einen Monat später mutmaßt US-Verteidigungssekretär William Cohen: "100.000 Männer im militärfähigen Alter werden vermisst. Sie wurden vielleicht ermordet" (Washington Post, 17.5.99). Am Ende des Krieges, Anfang Juni, wird die vermutete Opferzahl drastisch nach unten korrigiert - man spricht fortan von 10.000 getöteten Kosovo-Albanern.

Unmittelbar nach dem NATO-Einmarsch ins Kosovo reisen etwa 20 Expertenteams aus 15 Ländern ein, um im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals Massengräber aufzuspüren - insgesamt etwa 500 Spezialisten, darunter einige Mitarbeiter des FBI. Tatsächlich werden alsbald einige hundert Leichen exhumiert, die das Schreckensbild zu bestätigen scheinen. Doch bald hat es mit den "Erfolgsmeldungen" ein Ende. Das FBI inspiziert im britischen Sektor 30 Orte und stößt insgesamt auf nur 200 Leichen.

Im Herbst 1999 offenbart schließlich ein Zwischenbericht der Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals, Carla Del Ponte, dass die Angaben der Westmächte horrende Übertreibungen waren. Der Vorwurf, serbische Militärs hätten einen Völkermord vollstreckt, erscheint nunmehr als reine Kriegspropaganda. Experten untersuchen von Juni bis Oktober 195 der insgesamt 529 Orte, wo aufgrund von Zeugenaussagen Massengräber vermutet werden. Sie waren zuvor angewiesen worden, die Arbeit dort zu beginnen, wo die Ermittlungen die größten Erfolge versprechen. Bis Oktober werden jedoch nur 2108 Leichen exhumiert, ein Großteil davon wird in Einzelgräbern gefunden. Die UN-Ermittler machen keinerlei Angaben über Alter, Geschlecht, Nationalität oder voraussichtlichen Todeseintritt der Opfer - unter ihnen werden zahlreiche kosovo-albanische wie auch serbische Kämpfer vermutet, ebenso Zivilisten beider Seiten. Einzelheiten darüber, wie viele der Opfer den NATO-Bomben zuzurechnen sind, werden ebenfalls nicht genannt. George Friedmann, Direktor des Stratfor-Instituts in den USA, schlussfolgert: "Es ist nicht zu einem massenhaften, systematischen Töten gekommen" (taz, 3.12.99). Del Ponte hingegen erklärt, an vielen vermuteten Grabstätten seien Spuren verwischt worden, und sie mutmaßt weiter, dass dennoch mit rund 10.000 Opfern zu rechnen sei. Weitere Untersuchungen im Jahr 2000 sollen das belegen. Kommentatoren weltweit halten das für unwahrscheinlich, einige verweisen auf ähnliche Zahlenspiele und Manipulationen während des Bosnienkriegs.

4. Massengräber

"Unsere Befragungsteams hatten erfahren, dass im Dorf Izbica bis zu 200 Personen ermordet und die Leichen verscharrt worden sein sollten... Bald darauf hatten wir Bilder zur Verfügung, die eindeutig frische Grabfelder in Izbica und auch im Nachbarort Krasnika zeigten." (Eintrag 25.5.99, S.182f)

Scharpings Aussage basiert auf dem am 10. Mai 1999 vom US State Department veröffentlichten Bericht "Die Ausrottung der Geschichte: ethnische Säuberungen im Kosovo" (Erasing History: Ethnic Cleansing in History) (www.state.gov). Bei seiner Präsentation sagt US-Außenministerin Madeleine Albright, der Bericht bestätige "ohne jeden Zweifel" die Existenz "eines schrecklichen Systems von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" einschließlich "systematischer Hinrichtungen" und "organisierter Vergewaltigungen". Es heißt im Bericht, dass geschätzte 90 Prozent der Kosovo-Albaner aus ihren Häusern vertrieben worden seien, was sich später als glatte Lüge herausstellt. Es heißt darin auch, in Izbica seien etwa 150 ethnische Albaner ermordet worden. Satellitenfotos, die Erdbewegungen beweisen sollen, werden präsentiert und ins Internet gestellt. Belgrad dementiert die Vorwürfe und präsentiert im Fernsehen Aufnahmen des Geländes und Interviews der ansässigen Bauern. UN-Ermittler finden nach Kriegsende an der vermuteten Grabstelle bei Izbica keine Leichen (John Laughland: "I was right about Kosovo", The Spectator, 20.11.99). Sie finden jedoch Indizien, die darauf hinweisen sollen, dass die Spuren eines Massengrabes von serbischen Sicherheitskräften beseitigt wurden.

Während es unklar bleibt, ob sich auf dem Feld bei Izbica jemals ein Massengrab befand, ergeben Ermittlungen an anderer Stelle, dass ähnliche Behauptungen reine Kriegspropaganda waren. Als Ort eines der größten Massengräber im Kosovo nennen NATO-Sprecher unmittelbar nach Kriegsende Ljubenic bei Pec. Die sich zurückziehenden serbischen Streitkräfte hätten dort in aller Eile 350 Leichen vergraben, heißt es. UN-Ermittler inspizieren den Ort und finden sieben Leichen (Peter Worthington: "NATO's reputation a casuality of war", Toronto Sun, 18.11.99). Die UCK berichtet außerdem über ein riesiges Massengrab in der Trepca-Mine. In einem Ofen seien täglich bis zu 100 Menschen verbrannt und die Überreste anschließend in die Minenschächte geworfen worden; etwa 6000 Kosovo-Albaner hätten so ihr Leben verloren, wird verlautbart. Man erwartet, nach Kriegsende in der Mine die Überreste von mindestens 700 Menschen zu finden. Am 11. Oktober verkündet Kelly Moore, Sprecherin des UN-Tribunals, dass die Ermittler dort nicht die Spur eines einzigen Opfers finden konnten. Emilio Perez Pujol, der Leiter eines spanischen Pathologenteams, äußert sich schon im September überaus skeptisch gegenüber El Pais: "Nach meinen Berechnungen wird die Zahl der Toten im Kosovo am Ende bei höchstens 2500 liegen." Das spanische Team sei vorgewarnt worden, dass es in dem von ihm zu untersuchenden "schlimmsten Bezirk im Kosovo", Istok, mindestens 2000 Leichen ausgraben würde. Am Ende der Untersuchungen waren die Pathologen auf 187 Leichen gestoßen - über die Hälfte der Opfer waren zurückzuführen auf den NATO-Raketenangriff auf das Gefängnis in Istok. Die spanischen Pathologen finden keine Massengräber. Pujol sagt weiter: "Ich habe die Zahlen der UN gelesen. Sie haben mit 44.000 Toten angefangen. Dann sind sie auf 22.000 runtergegangen. Jetzt reden sie von 11.000. Ich bin gespannt, was am Ende wirklich dabei rauskommt." (23.9.99)

5. Systematische Vergewaltigungen

"Satellitenbilder zeigen Massengräber, Frauen berichten der OSZE von systematischen Vergewaltigungen, das UNHCR erhält Informationen über junge Frauen und Kinder, die man als menschliche Schutzschilde für ein Munitionsdepot in Prizren missbraucht." (Eintrag 27.4.99, S.137)

Meldungen über Massenvergewaltigungen im Kosovo werden von Scharping und seinen Kollegen immerfort kolportiert. Man zeigt fast täglich Bilder der Flüchtlingstrecks und präsentiert Aussagen von Vertriebenen, um in der Öffentlichkeit moralische Betroffenheit zu erzeugen und eine Diskussion über Sinn und Rechtmäßigkeit des NATO-Krieges zu ertränken. Zweifelsohne werden während des Kriegs Gräueltaten verübt. Doch unbestreitbar ist auch, dass diesbezügliche Informationen und Spekulationen für Propagandazwecke herhalten müssen. So wird auch die Situation in den Flüchtlingslagern nur verzerrt wiedergegeben. Der Chirurg Richard Munz, der im mazedonischen Flüchtlingslager Stenkovac arbeitet, resümiert in einem Interview: "Mit den Flüchtlingen wurden politische Spielchen betrieben."Munz weist darauf hin, dass "in unseren Flüchtlingslagern die Männer im wehrfähigen Alter die Mehrheit der Flüchtlinge stellten". Das widerspricht dem auch von Scharping gezeichneten Bild, überwiegend Kinder, Frauen und Alte seien dort untergebracht gewesen, die wehrfähigen Männer hingegen massenhaft Opfer der serbischen Soldateska. Auf die Frage nach Indizien für Vergewaltigungen sagt er: "Wir hatten in der ganzen Zeit, in der wir hier sind, keinen solchen Fall einer vergewaltigten Frau. Und wir sind insgesamt für 60.000 Flüchtlinge zuständig, für Stenkovac I und II, sowie noch zwei weitere kleine Lager. Auch wir hatten uns zuvor wegen der kursierenden Gerüchte über Vergewaltigungen überlegt, wie wir damit umgehen wollen, aber der Fall ist real nicht eingetreten. Wir haben keine gesehen, was natürlich nicht heißen muss, dass es keine gab." (Die Welt, 18.6.99, s.a. www.welt.de)

6. Massaker in Rugovo

"Beim Anschauen der Fotos: Übelkeit... In der täglichen Pressekonferenz kündigte ich an: 'Wir werden Ihnen Fotos präsentieren von einem Massaker, das schon am 29. Januar 1999 stattgefunden hat. (...) Ich rate allerdings dazu, gute Nerven mitzubringen, denn das sind Bilder, die ein OSZE-Beobachter aufgenommen hat... (...) Sie können genau sehen, was da schon seit Januar im Gang ist.'" (Eintrag 25.&26.4.99, S.132&136)

Als Beweis für Scharpings These, schon im Januar hätten Serben ein Massaker an der kosovo-albanischen Zivilbevölkerung im Dorf Rugovo durchgeführt und mit systematischen Vertreibungen begonnen, präsentiert der Verteidigungsminister am 27. April eine Aufnahme von Leichen. Journalisten erkennen sie: Experten der OSZE hatten sie längst einem Feuergefecht zwischen serbischen Streitkräften und der UCK zugeordnet. Als Scharping in einer ARD-Nachrichtensendung hierauf angesprochen wird, flüchtet er sich in weitere Spekulationen - so seien den Leichen die Schädel mit "Baseballschlägern" zertrümmert worden ("Bericht aus Berlin", ARD, 30.4.99). Er weist jede Kritik an seinem Verhalten empört von sich.

7. Kollateralschäden

"Solche tragischen Fehler werden von den serbischen Medien sofort propagandistisch als Belege für die mutwillige Zerstörung und vorsätzliche Angriffe auf die zivile Bevölkerung verbreitet und auch von unseren Medien verbreitet." (Eintrag 6.4.99, S.192)

So lautet Scharpings Eintrag, als am 5. April eine Rakete in einer Wohngegend im serbischen Aleksinac detoniert und 17 Menschen sterben. "Vorsätzliche Angriffe" gegen Zivilisten offenbaren sich später, beispielsweise beim Angriff auf die RTS-Zentrale, die Chinesische Botschaft oder die Ortschaft Korisa: Am 14. Mai werfen NATO-Flieger 10 Bomben über diesem Dorf im Kosovo ab, wobei mindestens 87 Zivilpersonen getötet werden. NATO-Sprecher James Shea erklärt noch am gleichen Tag gegenüber dem BBC: "Wir haben Berichte, dass es ebenfalls unter Soldaten zu Todesfällen kam, nicht einfach nur unter Zivilpersonen." Bei einer Pressekonferenz am folgenden Tag unterstreicht NATO-General Jerzt, dass Korisa ein legitimes Angriffsziel war, weil sich dort auch militärische Einrichtungen befanden.

So genannte "Kollateralschäden" werden von westlichen Informationsstrategen auch für eigene Propagandazwecke geschickt manipuliert. Das zeigt sich anlässlich eines Raketenangriffs am 12. April: Ein NATO-Kampfflieger feuert bei zwei unmittelbar nacheinander folgenden Anflügen je eine Rakete auf einen Zug, der gerade eine Eisenbahnbrücke bei Grdelica überquert. Zwei Waggons werden getroffen, mindestens 12 Menschen sterben, etliche werden verletzt. General Wesley Clark, Oberbefehlshaber der NATO in Europa, spricht am 13. April bei einer Pressekonferenz im NATO-Hauptquartier in Brüssel von einem "unglücklichen Zwischenfall". Er präsentiert am Ende der Konferenz das Cockpit-Video des Flugzeugs, um zu unterstreichen, dass der Pilot angeblich keine Wahl hatte: "Schauen Sie angestrengt auf den Zielpunkt, konzentrieren sie sich genau hierauf, und Sie können sehen, wie, falls Sie wie ein Pilot auf Ihren Job fokussiert sind, plötzlich dieser Zug erschien." (Movement for the advancement of International Criminal Law, http://www.joh.cam.ac.uk/~maicl/index.htm)

Erst Anfang Januar 2000 wird enthüllt, dass NATO-Experten das Video vor dem Abspielen manipulierten, um die Weltöffentlichkeit hinters Licht zu führen: Sie zeigten die Aufnahmen mit einem Beschleunigungsfaktor von knapp 5, um den Eindruck zu bestärken, der Zug sei auf die Brücke zugerast und hätte vom Piloten nicht erkannt werden können (Arnd Festerling: "Zug um Zug eine neue Version", Frankfurter Rundschau, 20.1.00). NATO-Sprecher entschuldigten dies mit einem "technischen Problem".

8. Raketen auf Flüchtlinge

"Bei Djakovica wurde ein Konvoi getroffen, viele Menschen wurden getötet. Tagelang blieb unklar, ob es sich um einen zivilen oder einen militärischen Konvoi gehandelt, ob serbisches Militär einen zivilen Konvoi als Schutzschild missbraucht und ob es sich überhaupt um einen Angriff durch NATO-Flugzeuge gehandelt hatte...Dass wahrscheinlich NATO-Piloten einen Flüchtlingstreck aus der Luft tragischerweise mit einem Militärkonvoi verwechselt hatten, war ein weiteres trauriges Beispiel dafür, dass es einen Krieg ohne Opfer in der Zivilbevölkerung nicht gibt." (Eintrag 14.4.99, S.121)

Der Raketenangriff auf den Flüchtlingstreck bei Djakovica erfolgt am 14. April, mehr als 70 Menschen kommen dabei ums Leben. Scharping und NATO-Sprecher verbreiten tagelang Zweifel an der NATO-Urheberschaft. Später entschuldigt man den Vorfall mit der Flughöhe des Piloten und seiner Verwechslung "traktorähnlicher Fahrzeuge" mit serbischen Militärfahrzeugen. Einige Wochen später veröffentlicht die "International Strategic Studies Association" das angebliche Funkgespräch des Piloten mit seiner Kommandobasis: "Pilot: Ich verlasse jetzt die Wolken. Ich sehe immer noch nichts. Basis: Setzen Sie Ihren Flug fort. Richtung Nord 4280. Pilot: Ich bin unter 3000 Fuß. Unter mir eine Kolonne von Fahrzeugen. Eine Art von Traktoren. Was soll das? Ich verlange Instruktionen. Basis: Wo sind die Panzer? Pilot: Ich sehe Traktoren. Ich nehme nicht an, dass die Roten die Panzer als Traktoren getarnt haben. Basis: Was sind das für komische Geschichten? So ein Ärger! Da stecken sicher die Serben dahinter. Zerstören Sie das Ziel! Pilot: Was soll ich zerstören? Traktoren? Gewöhnliche Fahrzeuge? Ich wiederhole: Ich sehe keine Panzer. Ich verlange weitere Informationen. Basis: Es ist ein militärisches Ziel. Zerstören Sie das Ziel! Ich wiederhole: Zerstören Sie das Ziel!"

Die Authentizität dieses Funkspruchs bleibt umstritten. Eindeutig dafür, daß auch Zivilisten willentlich ins Visier genommen wurden, spricht hingegen die Aussage eines spanischen F-18-NATO-Piloten nach seiner Rückkehr aus dem Krieg Ende Mai. Er behauptet, dass er und seine Kollegen wiederholt den Befehl erhalten hätten, zivile Einrichtungen zu bombardieren: "Mehrere Male protestierte unser Colonel bei den NATO-Chefs, dass sie Ziele ausgewählt hatten, die keine militärischen waren...Einmal bekamen wir von den US-Militärs den kodierten Befehl, dass wir über den Städten Pristina und Nis Anti-Personen-Bomben abwerfen sollten. Unser Colonel verweigerte den Befehl, und ein paar Tage später wurde er versetzt." (Articulo 20, 14.6.99)

Die Fakten sprechen für sich: Während des Krieges werden Tausende solcher Anti-Personen-Bomben - so genannte Splitter- oder Kasettenbomben gegen "weiche Ziele" - auf militärische wie zivile Einrichtungen in Serbien abgeworfen. In Nis beispielsweise explodieren am 7. Mai zwei solcher Geschosse, sie zerfetzen 13 Zivilisten, 29 weitere werden zum Teil schwer verletzt.

9. Bombardierung der RTS-Zentrale

"Ich bin unzufrieden mit der Informationspolitik der NATO. Die Informationen an sich sind verlässlich, aber sie kommen viel zu spät und lassen zu viel Zeit für Spekulationen und Desinformationen. Wieso kann man nicht schon frühmorgens in Brüssel Informationen verbreiten, um den Bildern des jugoslawischen Fernsehens zu begegnen?" (Eintrag 4.4.99, S.99)

Offenbar teilen auch NATO-Militärs Scharpings Unzufriedenheit und schreiten zur Tat: Am 23. April wird frühmorgens die Zentrale des serbischen TV-Senders RTS in der Belgrader Innenstadt bombardiert. 16 Journalisten und Techniker werden in Stücke gerissen, zahlreiche werden verletzt. Gleichzeitig werden ab Mitte April verstärkt Antennen und Sender in ganz Serbien unter Beschuss genommen, im Mai wird schließlich auch die Satellitenausstrahlung jugoslawischer Sender in Westeuropa unterbunden. Nach Kriegsende kommt ans Tageslicht, dass der Angriff auf die RTS-Zentrale von langer Hand geplant war. Während der "NewsWorld"-Medienkonferenz in Barcelona im vergangen Oktober erläutert Eason Jordan, Chef von CNN International, dass er über den bevorstehenden Angriff informiert worden war. Er habe dagegen protestiert, weshalb die NATO-Flieger beim ersten Anflug abdrehten (John Simpson: "Parting shots in Kosovo's media war", Daily Telegraph, 7.11.99). Zwei Tage später wird der Luftangriff ausgeführt, zu einem Zeitpunkt, als sich keine ausländischen Journalisten im RTS-Gebäude aufhalten und CNN-Leute ihre Ausrüstung in Sicherheit gebracht haben. Zuvor wird der serbische Informationsminister Aleksandar Vucic für die frühen Morgenstunden zu einem Interview für eine amerikanische TV-Livesendung ins RTS-Studio eingeladen. Seinen Angaben zufolge entgeht er den Raketen nur, weil er sich verspätet (Robert Fisk: "Verdrehen und verschweigen", Le Monde Diplomatique, 13.8.99, s.a. www.taz.de).

10. Angriffsziel Chinesische Botschaft

"Was für ein schreckliches Desaster... Das wird politisch ganz schwierig, nicht allein wegen der öffentlichen Meinung und der wachsenden Ungeduld und Unsicherheit; unsere politischen Bemühungen drohen durch diesen schrecklichen Fehler auch ruiniert zu werden." (Eintrag 8.5.99, S.154)

Scharping zeigt sich besorgt, nachdem am 7. Mai Raketen in der Chinesischen Botschaft im Zentrum Belgrads eingeschlagen waren. Drei chinesische Journalisten sterben, zahlreiche Botschaftsangehörige werden schwer verletzt. Scharping spricht von "unpräziser Zielplanung" und "Mängeln in den nachrichtendienstlichen Informationen". Monate später kommt ans Tageslicht, dass der amerikanische Geheimdienst CIA das Angriffsziel vorgegeben hatte und allem Anschein nach doch keine Verwechslung des Gebäudes vorlag. Es wird vermutet, dass dem serbischen Militär vom Botschaftsgebäude aus taktische Informationen übermittelt wurden und der NATO-Angriff deshalb durchgeführt wurde (Spiegel, 2/2000).

11. NATO-Erfolgsmeldungen

"In der heutigen Führungslage erhalte ich Zahlen der NATO: Zerstört oder außer Gefecht gesetzt seien 314 Artilleriegeschütze, 120 Kampfpanzer, 203 Schützenpanzer, 268 größere Fahrzeuge verschiedener Art, 14 Hauptquartiere und Gefechtsstände; die Versorgung der im Kosovo eingesetzten Truppen sei deutlich gestört, der Nachschub zwar nicht vollständig, aber stark unterbunden." (Eintrag 1.6.99, S.188)

Solche "Erfolgsmeldungen" der westlichen kriegsführenden Allianz werden genauso an den Haaren herbeigezogen wie jene aus Belgrad. Unmittelbar nach Ende der Luftangriffe entpuppen sich Scharpings Zahlen als Unfug: Serbische Streitkräfte ziehen mit dem Großteil ihres unbeschädigten Kriegsgeräts aus dem Kosovo ab. Es stellt sich heraus, dass bei den etwa 34.000 Einsätzen der NATO-Kampfflieger weniger als 20 serbische Panzer, dafür aber zahlreiche aufblasbare Attrappen getroffen worden waren. Fast sämtliche Zerstörungen, die später im Kosovo vorgefunden werden, schieben NATO-Militärs und westliche Politiker dem serbischen Militär in die Schuhe.

12. Verteidigung der Menschenrechte

"Endlich treten wir nicht, wie so oft vor 1945, als Aggressor auf, sondern verteidigen Menschenrechte; erstmals handeln die Deutschen gemeinsam mit allen Europäern statt gegen sie; erstmals geht es nicht um Unterwerfung, sondern um menschliche Rechte und deren Durchsetzung." (Eintrag 11.4.99, S.114)

Scharpings heroische Begründung des deutschen Waffengangs von März bis Juni 1999 verdeutlicht noch einmal den Grad der Kriegsverblendung, die ihn während der Kriegsmonate antrieb. Die heutige Situation im Kosovo ist trotz militärischer Besatzung von Chaos und Gewalt geprägt. Praktisch ist die Region von Serbien und damit von Jugoslawien abgespalten, was allen früheren Zielsetzungen der Westmächte widerspricht. Hunderttausende serbische und andere Zivilisten werden nach dem NATO-Einmarsch vertrieben oder fliehen aus Angst vor Übergriffen. Hunderte von Serben und Roma sowie Zugehörige anderer ethnischer Minderheiten werden zudem getötet, ihre Behausungen und Kulturdenkmäler systematisch zerstört. Die ohnehin schwache und zuvor bereits mit Füßen getretene Grundlage für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Kosovo wird durch den NATO-Krieg auf Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte zerstört.

Am Vorabend des 24. März sagt Scharping in den ARD-Tagesthemen, das Ziel der Westmächte sei "unverändert, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern" (S.12). Wenige Stunden später sind die ersten NATO-Bomber über Serbien im Einsatz. Das Gegenteil von Scharpings Versprechung wird binnen Tagen deutlich. Auch aus Sicht kosovo-albanischer Zivilisten verschärft sich die Situation mit Einsetzen der Bombardements dramatisch. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen stellen fest, dass erst die NATO-Raketen den massenhaften Exodus aus dem Kosovo entfesseln. Im Zuge der Bombardements eskaliert der Konflikt zwischen serbischen Streitkräften und der UCK. Zudem fliehen Tausende von Menschen aller ethnischen Gruppen, weil sie wegen der anhaltenden Luftangriffe um ihr Leben fürchten. Ein am 6. Dezember 1999 von der OSZE im Internet veröffentlichter Bericht zeigt überdies auf, dass zwar Übergriffe auf wehrlose Kosovo-Albaner geschehen, massiv jedoch erst nach dem Beginn des NATO-Krieges. Ein Leitartikel im Spectator kommentiert diesen OSZE-Bericht folgendermaßen: "Das war keine gute Woche für die ethische Außenpolitik... In anderen Worten: eine Politik, die beabsichtigte, Gräueltaten zu stoppen, provozierte solche aktiv." (11.12.99)

    Zum Autor: Thomas Deichmann ist freier Journalist und Novo-Chefredakteur. Buchveröffentlichungen als Hg.:

    Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, Frankfurt/M. 1999; mit Klaus Bittermann: Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben, Berlin 1999.

    Dieser Beitrag erscheint in gekürzter Fassung in Klaus Bittermann (Hg.): Meine Regierung. Vom Elend der Politik und der Politik des Elends. Rot-Grün zwischen Mittelmaß und Wahn, Berlin 2000.

    "NOVO stellt sich ... gegen Zensur, Verbots- und Ausgrenzungsdenken, Overprotectionism und Verhaltensregulierung. Es steht für den Versuch, in Gesellschaft und Wissenschaft nicht auf die alten Sicherheiten zu setzen, sondern auf das evolutionäre Potential einer freiheitlichen und zivilen Gesellschaftsvision ... >>> Dafür steht NOVO"

    Copyright 1999-2000, Alexander Horn Verlag

[start] [aktuelles] [infopool] [gegeninfo] [search] [termine] [links]