In seinem Buch "Wege nach Rußland" schildert Wilhelm Christians - bis
1988 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank - wie er als junger
Wehrmachtsleutnant an der Ostfront verwundet wurde und zwei Jahrzehnte
später in Moskau eine Geschäftsstelle des größten deutschen
Finanzinstituts eröffnete und große Wirtschaftsprojekte, wie die
Lieferung von nahtlosen Mannesmann-Röhren für sowjetische Pipelines
einfädelte.
Sofort nach der Wiedervereinigung machte die deutsche Regierung
unmißverständlich darauf aufmerksam, daß sie Osteuropa als ihren
wirtschaftlichen und politischen Einflußbereich betrachtet. Die
Anerkennung von Slowenien und Kroatien gegen viele warnende Stimmen
diente 1991 auch dazu, diesen Führungsanspruch in der Region deutlich zu
machen. Das verstärkte Eingreifen der US-Regierung in diesem Gebiet
verfolgt Bonn/ Berlin mit gemischten Gefühlen. Vor allem will die
deutsche Regierung eine wachsende Konfrontation mit Rußland eingrenzen
und verhindern.
Während Rudolf Scharping (SPD) mit großer Gestik und Theatralik in den
Kriegstagen allabendlich über "unvorstellbare Greultaten der Serben"
sprach und die Kriegspropaganda schürte, wird in seinem
Verteidigungsministerium seit vielen Monaten darüber diskutiert, wie man
der amerikanischen Kriegstreiberei Einhalt gebieten und eine Zuspitzung
der Konfrontation mit Rußland verhindern könne. Äußerst aufschlußreich
ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz eines Politikwissenschaftlers der
Bundeswehr.
Fast ein Jahr bevor der Nato-Angriff auf Serbien begann, veröffentlichte
August Pradetto, Professor an der Bundeswehrhochschule in Hamburg, einen
langen Vortrag zum Thema: "Konfliktmanagement durch militärische
Intervention? Dilemma westlicher Kosovo-Politik."
(
http://www.unibw-hamburg.de/WWEB/soz/pradetto/nato-kosovo-studie.htm)
Er setzt sich darin kritisch mit der Kosovopolitik der Nato auseinander
und warnt vor einer militärischen Intervention. Unter der
Zwischenüberschrift: "Der Kosovo-Streit zwischen Rußland und den USA
unter machtpolitischen Aspekten" betont er, daß es beim Einsatz der Nato
auf dem Balkan "nicht nur um humanitäre, politische, völkerrechtliche
und militärische Aspekte" gehe, sondern vor allem um
"machtpolitisch-strategische". "Es geht auch um die Auseinandersetzung
über die Kompetenzen und die Reichweite politischer Entscheidungen und
des militärischen Zugriffs der westlichen Allianz. Nach dem
Zusammenbruch von Warschauer Pakt und Sowjetunion werden diverse
Machtressourcen in Europa und weit darüber hinaus neu verteilt." Die
damit verbundenen Konflikte seien auf vielen Ebenen sichtbar. Neben der
Nato-Osterweiterung nennt Pradetto ausdrücklich auch "die Einflußnahme
auf die Ölreserven in der nun der unmittelbaren Moskauer Kontrolle
entzogenen Region um die Kaspische See".
Er zeigt, daß die Befürchtungen Rußlands nicht unbegründet sind. Die
Nato habe eine intensive Kooperation mit Albanien und Makedonien
aufgebaut und in beiden Ländern "Verbindungsbüros" eingerichtet, nutze
deren militärische Einrichtungen und führe mit diesen Ländern gemeinsame
Manöver durch. Damit wachse die russische Befürchtung, die Nato baue
unter dem Vorwand der Eindämmung des Konflikts im Kosovo ihre Präsenz in
Südosteuropa aus, schaffe sich auf diese Weise neue Optionen und
strategische Positionen gegenüber Rußland. "Der Einsatz militärischer
Kräfte der Nato in Kosovo wiederum ohne Legitimation durch den
UN-Sicherheitsrat und aufgrund eines Mandats, das sich die Nato auf
Basis einer von ihr definierten Unsicherheitslage und dabei zu
treffender militärischer Maßnahmen selbst erteile, wird als
Präzedenzfall für mögliche zukünftige Einsätze im unmittelbaren Vorfeld
Rußlands gewertet, etwa im Kaukasus unter Nutzung ethnischer Konflikte
und zwischenstaatlicher Querelen, wo in der Auseinandersetzung um die
Erdölressourcen in der Kaspischen Region und den Nießbrauch bzw. die
Verlegung von Pipelines ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen westlichen
und russischen Ölkonzernen bzw. zwischen Washington und Moskau im
Kontext strategischer Interessen entbrannt ist."
Wie gesagt, Pradetto schrieb dies fast ein Jahr bevor die
Nato-Luftschläge begannen und straft damit die offizielle
Kriegspropaganda Lügen. Hinter den Kulissen wurde seitdem heftig
gestritten. Während die US-Regierung die Kriegsvorbereitungen
vorantrieb, versuchten einige europäische Regierungen, u.a. die
Bundesregierung, eine diplomatische Lösung zu finden. Nachdem sich die
amerikanische Seite durchgesetzt hatte, beteiligte sich die
Bundesregierung an der Bombardierung Serbiens und nimmt nun auch mit
eigenen Truppen an der Besetzung des Kosovo teil.
Neben der Bündnistreue wächst hier mehr und mehr die Einsicht, daß die
wirtschaftlichen Interessen des wiedervereinigten Deutschlands nur in
dem Maße durchgesetzt werden können, wie ihnen durch eigene Streitkräfte
Nachdruck verschafft werden kann. Damit beginnt eine neue Phase des
deutschen Militarismus. Bis zur Wiedervereinigung vor knapp zehn Jahren
war die Aufgabe der Bundeswehr ausschließlich auf die Verteidigung des
eigenen Territoriums beschränkt.
Alle politischen Parteien stimmten überein, daß das Grundgesetz jeden
Einsatz zu Angriffszwecken und jeden Einsatz außerhalb des Territoriums
der Nato verbiete. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges begann eine
strategische Neuorientierung. Anfang 1992 legten führende Militärs und
hohe Beamte des Verteidigungsministeriums ein Strategiepapier vor, das
den Auftrag der Bundeswehr völlig neu definierte. In Zukunft sollte ihre
Aufgabe in folgendem bestehen: "Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung
von Konflikten jeglicher Art, die die Unversehrtheit und Stabilität
Deutschlands beeinträchtigen könnten", "Förderung und Absicherung
weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer
Stabilität" und "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des
Zugangs zu strategischen Rohstoffen".
Welche Bedeutung diese Veränderung hat macht ein weiterer Bundeswehrtext
deutlich. Im September vergangenen Jahres erschien eine
Informationsbroschüre für Offiziere unter dem Titel "Erdölpoker am
Kaukasus - Sicherheitspolitische Aspekte der Öl- und Gasvorkommen des
Kaspischen Meeres". Oberstleutnant Helmut Udo Napiontek, der in den
vergangenen Jahren mehrmals als Mitglied einer OSZE-Mission in Georgien
tätig war, gibt auf 15 Seiten einen Überblick über die Konflikte, die
sich nicht nur über die Förderung von Öl und Gas in der Region
entwickeln, sondern auch über die Transportfrage. Er schreibt: "Für die
potentiellen Öl- und Gasproduzenten ist schon die geographische
Ausgangslage schwierig genug: Die Großmacht China grenzt im Osten an den
Produzenten Kasachstan. Im Norden des Kaspischen Beckens liegt der
Anrainer Rußland, der zur Zeit alle Exportrouten kontrolliert. Im Süden
befinden sich das in Kriegswirren zerstrittene Afghanistan und die
fundamentalistische Islamische Republik Iran. Im Westen grenzt das
Kaspische Becken an den durch ethnoterritoriale Konflikte
gekennzeichneten Transkaukasus und die nach regionaler Dominanz
strebende Türkei, Dazu kommen die unterschiedlichsten wirtschaftlichen,
religiösen und politischen Ausgangslagen." Dann folgt die lange Liste
der bereits bestehenden und potentiellen Konfliktherde. "Mittlerweile
kämpft in der Pipelinefrage fast jeder gegen jeden."
Obwohl der Autor das Vorgehen der USA wohlwollend betrachtet und
mehrmals hervorhebt, daß es der US-Politik vor allem darauf ankomme,
eine russische Vorherrschaft in der Region zu verhindern, klingen auch
kritische Töne an: "Das 'Timeing' Washingtons bei der Intensivierung der
Beziehungen zur Region deutet insgesamt darauf hin, daß es nur
vordergründig um demokratische und marktwirtschaftliche Reformen geht.
Eher wohl um die enormen Öl- und Gasvorkommen. Denn Georgien einmal
ausgenommen, werden die Staaten der Region weitestgehend autoritär
regiert. Washington tut wenig dies zu ändern, solange die Interessen der
amerikanischen Ölkonzerne, die die Hälfte aller Investitionen in der
Region getätigt haben, nicht involviert sind."
Um deutlich zu machen, wie heftig die Interessengegensätze
aufeinanderstoßen, ist es aufschlußreich, einen weiteren Blick auf das
eingangs bereits zitierte Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion
"Zukunftsregion Kaspisches Meer" zu werfen. In einer Vorbemerkung wird
darauf hingewiesen, daß der Text nicht für ein größeres Publikum und
schon gar nicht für Propagandazwecke gedacht sei: "Diese
Veröffentlichung der SPD-Bundestagsfraktion dient ausschließlich der
Information. Sie darf während eines Wahlkampfs nicht zum Zweck der
Wahlwerbung verwendet werden." Das Vorwort stammt aus der Feder des
damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden und heutigen Verteidigungsministers
Rudolf Scharping. Er betont: "Die SPD-Bundestagsfraktion widmet der
Entwicklung in Zentralasien und am Kaspischen Meer große Aufmerksamkeit.
In dieser 'Zukunftsregion' bestehen mehrere Konflikte und Probleme, die
sich durch das weltweite Interesse an den Öl- und Gasvorkommen
verstärken können." Dann macht er darauf aufmerksam, daß die
SPD-Fraktion bereits im Dezember 1997 eine Kleine Anfrage zu diesem
Themenkomplex im Bundestag eingebracht hat ("Die Entwicklung des
kaspischen Raumes und die Interessen Deutschlands"). Darüber hinaus habe
die SPD-nahe Friedrich-Ebert- Stiftung zwei internationalen Kongresse in
Berlin und Washington zu diesem Thema durchgeführt. Das Positionspapier
beklagt das aggressive Eindringen der amerikanischen Konzerne, die "bei
den wichtigsten Konsortien in Kasachstan und Aserbaidschan inzwischen
bei 40 bis 50 Prozent liegen". Die Bundesrepublik Deutschland sei unter
den wichtigsten 100 international tätigen Mineralölgesellschaften
bedauerlicherweise nicht vertreten. Sie konzentriere daher ihre
"wirtschaftlichen Interessen überwiegend auf die Beteiligung an
Infrastrukturaufträgen, besonders im Bereich Straßenbau, Errichtung von
Verkehrssystemen und kommunaler Infrastruktur, Telekommunikation,
Rundfunk und Fernsehen sowie der Erzeugung und Distribution von
Elektroenergie." Aber auch in diesen Bereichen erreichten die
Vertragsabschlüsse bisher "nur bescheidene Ausmaße". "Deutsche
Unternehmen bekommen z.B. zu spüren, daß die Transnationalen Konzerne
(TNCs) der Mineralölbranche ihre Beteiligungen und Investitionen häufig
an günstige Konditionen für andere Anbieter aus ihren Herkunftsländern
knüpfen. Das Geschäft mit den Energierohstoffen wird zum Türöffner für
weitere Aufträge im Infrastrukturbereich. Die deutsche Politik muß hier
besondere Anstrengungen unternehmen, um auf faire Bedingungen zu drängen
und einen Ausgleich für die so entstehenden Wettbewerbsverzerrungen zu
schaffen."
Wie sooft in der Geschichte des Kolonialismus erheben die
Zuspätgekommenen mahnend den Zeigefinger und warnen vor den sozialen und
ökologischen Konsequenzen einer rücksichtslosen Ausbeute der Rohstoffe.
So betont die SPD-Studie, daß die Art der überstürzten Abschlüsse der
vergangenen Jahre eine "völlig einseitige Aneignung dieser Reichtümer
durch einzelne Familien, Clans oder Oligarchien" begünstige. Dadurch
werde sich die Krise der ganzen Region weiter verschärfen. "Diese
bequemen und profitablen Abschlüsse werden sich mittelfristig als
äußerst kostspielig erweisen, wenn ihr heutiger Preis die
stillschweigende Komplizenschaft mit regionalen, die Transformation
verweigernden oder verzögernden Machthabern ist." Die Studie warnt vor
einer Blockbildung, in der sich ein US-geführter und ein russisch
geführter Block feindlich gegenüberständen.
Die gegenwärtige Entwicklung laufe in eine "verhängnisvolle Richtung".
"Unter dem Einfluß der außerregionalen Mächte bilden sich immer
deutlicher zwei Staatengruppen heraus, die sich inzwischen bereits als
'Strategische Allianzen' bezeichnen und deren Frontlinie mitten durch
die Kaspische Region verläuft. Die eine Gruppe verbindet die Vereinigten
Staaten mit der Türkei sowie Aserbaidschan und Georgien. Zur anderen
zählt man die Russische Föderation, den Iran, Armenien und (mit
Einschränkung) Turkmenistan. Der Antagonismus dieser 'Allianzen'
erinnert an geopolitische Fehlentwicklungen zur letzten
Jahrhundertwende, die Europa einen hohen Blutzoll abgefordert haben."
Eine gemeinsame europäische Politik müsse dieser Entwicklung
entgegenwirken und eine "regionale Kooperation" unterstützen. Dabei
seien vom europäischen Standpunkt aus vor allem zwei Dinge wichtig:
erstens eine Stärkung der "Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa" (OSZE). Obwohl die Russische Föderation "außer
in Aserbaidschan in der ganzen Region Garnisonen unterhält", sei mit dem
Ende der Sowjetunion ein Machtvakuum entstanden, das durch die OSZE
ausgefüllt werden solle.
Die OSZE habe sich "durch ihre Missionen in Tadschikistan, Georgien,
Tschetschenien und Berg-Karabach (Minsk-Konferenz)" Vertrauen und
Anerkennung in der Region erworben. Zweitens solle der
"Energie-Charta-Vertrag" (ECT), der am 16. April 1998 in Kraft trat und
den bisher 32 Staaten, darunter alle acht Republiken der Region,
ratifiziert haben, zur allgemeinen Geschäftsgrundlage werden.
"Der ECT schafft verläßliche und gleiche Bedingungen für Investitionen
in Exploration, Upstream-Projekte und Pipelinenetze, er hält Instrumente
zur garantierten Vertragserfüllung bereit, sichert die freie
Durchleitung von Öl und Gas und bietet im Falle von Streitigkeiten ein
effektives Schlichtungsverfahren an. Damit kann er als Bollwerk gegen
die in der Kaspischen Region drohende Politisierung der
Rohstofferschließung und -förderung und des Transits der Energieträger
gelten sowie als Wegbereiter für eine ökonomische und rationale
Entscheidung über die in Frage stehenden Varianten."
Einziger Schönheitsfehler: Die US-Regierung weigert sich bisher strikt
dem ECT beizutreten und sieht darin vorwiegend einen Versuch, den
amerikanischen Konzernen Schranken aufzuerlegen. Der Krieg im Kosovo hat
die Karten in diesem "Great Game" neu gemischt. Die Rolle der UNO und
OSZE wurde stark herabgemindert. Das aggressive Vorgehen der USA gegen
einen souveränen Staat und die Beteiligung der übrigen Nato-Staaten
macht nicht nur deutlich, mit welcher Brutalität die Großmächte ihre
wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen durchsetzen, sonder
kündigt auch neue, weitaus größere Konflikte an. Die Lügenpropaganda von
Fischer und Scharping, die beide über die wirklichen Diskussionen in
ihren Ministerien bestens informiert sind, bildet nur die Begleitmusik
für den Wiederaufstieg der deutschen Kriegsmaschinerie, die in diesem
Jahrhundert die größten Verbrechen begangen hat. Das WSWS erwartet Ihren Kommentar: wsws@gleichheit.de. World Socialist Web Site
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