junge Welt              Ausland                           11.09.1999

Grüezi, NATO!

Existiert stay behind noch in der Schweiz? Hintergründe eines Geheimdienstskandals. 

Von Gerhard Feldbauer

Ein Geheimdienstskandal ersten Ranges erschüttert derzeit die Öffentlichkeit der Schweizer Eidgenossenschaft. Schien es sich zunächst nur um einen Korruptionsskandal riesigen Ausmaßes zu handeln, hat die Affäre inzwischen Dimensionen angenommen, »an die wir nicht im Traum dachten«, wie Verteidigungsminister Adolf Ogi einräumen mußte. Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob Strukturen der geheimen NATO-Armee »stay behind« in dem Alpenstaat weiter existieren.

[NATO - 50 Jahre Terrorherrschaft]Angesichts der künftigen geheimdienstlichen Abschirmung der mit der Aggression gegen Jugoslawien sichtbar gewordenen neuen Expansionsziele der NATO, auf die kürzlich kein Geringerer als der italienische Publizist Giogrio Bocca verwiesen hat, eine äußerst brisante Frage.

Lassen wir dazu zunächst die Fakten sprechen, die nicht wegzudementieren sind:

Mitte August wurde mehr zufällig ein Korruputionsskandal im eidgenössischen Geheimdienst bekannt. Ein angeblich wegen Krankheit ausgeschiedener Agent namens Dino Bellasi hatte 8,6 Millionen Schweizer Franken, umgerechnet über zehn Millionen DM, unterschlagen. Die nicht unbeträchtliche Summe hatte Bellasi für eine spezielle Geheimdiensttruppe kassiert, die gar nicht existieren soll. Der Fakt verdeutlicht, daß es sich nicht um irgendeinen subalternen Mitarbeiter, sondern um einen hochkarätigen Mann handeln mußte. Die Boulevardpresse überschlug sich zunächst in Enthüllungen über ihn: Ein Bonvivant, der ein ausschweifendes Leben führe und neben der angetrauten Ehefrau auch noch eine Verlobte und eine Geliebte unterhalte. Dann war vom spleenigen Waffennarr die Rede, der immense Summen für sein kostspieliges Hobby ausgab. Aber 200 Präzisionswaffen neuester Bauart, die die Schweizer Polizei aufspürte, sprachen nicht gerade für einen Waffensammler. Das bestätigte auch ein zur Sache vernommener Berner Waffenhändler, der aussagte, Bellasi sei kaum ein Sammler gewesen. Er habe sich »nur für modernste Waffen und Zubehör interessiert«.

Von da an rollte eine Lawine los. Bellasi war offensichtlich nicht bereit, seine Haut für andere zu Markte zu tragen, und packte aus. Die schockierten Eidgenossen erfuhren, daß es mit der Waffenleidenschaft des Ex-Agenten etwas ganz anderes auf sich gehabt haben soll. Er ließ über seinen Anwalt erklären, daß er im Auftrag des Chefs des Geheimdienstes Peter Regli gehandelt habe. Neben der Anlegung geheimer Waffenlager, der Vorbereitung von Schulungen und Schießübungen sei sein Auftrag gewesen, einen unabhängigen Nachrichtendienst aufzubauen. Eine extra neu erbaute Villa in Graz sollte das Hauptquartier des »geheimen« Nachrichtendienstes aufnehmen. Verteidigungsminister Ogi teilte vor der Presse mit, daß Geheimdienstchef Regli vom Dienst suspendiert wurde.

Unzuverlässige Elemente

(Gladio)Insider erinnerten sich, daß das Anlegen geheimer Waffen- und Munitionsdepots oder der Aufbau geheimer paralleler Nachrichtendienststrukturen Bestandteil der Planungen der während des Kalten Krieges in der NATO geschaffenen geheimen »stay behind«-Truppe, nach der italienischen Bezeichnung auch Gladio genannt, war. Die von der CIA geführten, durchweg aus alten und neuen Faschisten rekrutierten Einheiten, die im Falle einer vorgeblichen sowjetischen Invasion hinter den Linien (eben stay behind) operieren und Sabotageakte durchführen sollten, wurden beileibe nicht nur in den NATO-Staaten aufgestellt. Auch im neutralen Schweden, in Österreich und in der Schweiz hatten sich Armee- und Geheimdienstkreise zu diesen überall eklatant gegen die Landesverfassungen verstoßenden NATO-Praktiken hergegeben.

In der Schweiz wurde im Frühjahr 1990 eine geheime Untergrundarmee aufgedeckt, die unter der Bezeichnung »P 26« geführt wurde und in die entsprechenden NATO-Strukturen eingebunden gewesen sein soll. Mit ihren Aktivitäten befaßte sich eine Parlamentarische Untersuchungskommission. Die Schweiz war damit neben Italien der einzige Staat, in dem sich das Parlament mit diesen verfassungswidrigen Machenschaften von Militär- und Geheimdienstkreisen befaßte.

Bei den Untersuchungen kam ans Licht, daß auch in der Schweiz ein Vorgehen der Untergrundarmee nicht erst im Kriegsfall, sondern bereits vorher gegen politische Gegner vorgesehen war. Das wurde am Beispiel des sogenannten Fichenskandals sichtbar, den Enthüllungen über die von den Geheimdiensten angelegten zivilen und militärischen Internierungslisten, auf denen die Namen von etwa 10 000 »Verdächtigen« und »Extremisten« erfaßt gewesen sein sollen. Wie die Wiener Zeitschrift Zoom in ihrer Ausgabe 4-5/1996 unter dem Thema »Es muß nicht immer Gladio sein« berichtete, wurden beispielsweise als Extremisten Personen eingestuft, »bei denen auf Grund ihrer bisherigen politischen Tätigkeiten und aus persönlicher Neigung damit zu rechnen ist, daß sie bei einem bewaffneten Angriff auf unser Land oder im Falle schwerer innerer Unruhen die politische Führung mit oder ohne Hilfe einer fremden Macht übernehmen würden«. In einer bereits 1959 herausgegebenen speziellen Geheimdienstinstruktion hieß es: »Unzuverlässige Elemente, Ausländer, Verdächtige werden überwacht oder vorsorglich in Lagern untergebracht.«

Die ersten Spuren des Aufbaus der Schweizer Untergrundarmee führten in die erste Hälfte der fünfziger Jahre zurück, einen Zeitraum, in dem die »stay behind«-Strukturen auch in den anderen westeuropäischen Ländern geschaffen wurden. Zunächst nahm diese Aufgaben ein Spezialdienst »D« der Untergruppe Nachrichten und Abwehr (UNA) des militärischen Geheimdienstes unter Leitung von Oberst Albert Bachmann wahr. 1967 begann die direkte Formierung der »P 26«-Truppe. Von Anfang an zeigten sich die verdeckten nachrichtendienstlichen Praktiken, die auch jetzt wieder in der Bellasi-Affäre zum Vorschein kamen. So zog Oberst Bachmann parallel zu seinem Dienst »D« einen privaten Geheimdienst auf, unterhielt Tarnfirmen und kaufte Hotels in Irland und Grundstücke in Kanada, die angeblich im Falle einer sowjetischen Besetzung der Schweiz einer Exilregierung zur Verfügung stehen sollten.

Tummelplatz der CIA

Ähnlich ging es auch noch 1990 zu, als die »P 26« aufflog. Generalstabsoberst Efrem Cattelan, der seit 1979 die Untergrundarmee kommandierte, trat unter dem Decknamen »Rico« auf. Er leitete eine Tarnfirma Consec AG für Personalschulung mit Sitz in Basel, über die die Finanzierung der Geheimarmee abgewickelt wurde. Die Gelder wurden bei vorfinanzierten Schweizer Rüstungsverkäufen und bei Waffenkäufen für die Schweizer Armee abgezweigt. Elf Millionen Schweizer Franken sollen Cattelan jährlich für seine auf eine Sollstärke von 1 000 Mann bezifferte Truppe zur Verfügung gestanden haben. Außerdem besaß er eine »Kriegskasse« von sechs Millionen Franken, die aus Goldplättchen  bestand und bei verschiedenen Banken eingelagert war.

Um die Aufdeckung der illegalen Praktiken der »P 26« so gut wie möglich zu verhindern bzw. ihr entgegenwirken zu können, hatte die UNA 1990 in der Parlamentskommission einen Spitzel untergebracht, der als Protokollführer den Geheimdienst lange Zeit auf dem laufenden halten konnte, ehe er enttarnt wurde. Die Kommission konnte wegen der geheimdienstlichen Abschirmung zwar keine direkte Unterstellung der Untergrundarmee unter die NATO-Zentrale nachweisen, wohl aber eine enge Zusammenarbeit mit den NATO-Staaten Großbritannien und BRD sowie deren Einbindung in das nur für die Leitung der »stay behind«- Truppen geschaffene Funkleitsystem »Harpoon«, das mit dem Kommunikationssystem der Schweizer Armee nicht kompatibel war. Der Vertrieb des von der Daimler-Tochter AEG-TST hergestellten Systems lief über den BND. Unter dem Code »Schwarze Hand« unterhielt der Bundesnachrichtendienst einen engen Nachrichtenaustausch mit dem Dienst »D« Oberst Bachmanns, was ebenfalls eine schwere Verletzung des Neutralitätsstatus der Schweiz darstellte.

In einem »Joint Working Agreement« genannten Dokument war die Durchführung von Ausbildungskursen für Einheiten der »P26«, darunter Sabotagelehrgänge und Nachschubübungen (Vorbereitungen auf Fallschirmabwürfe) in Großbritannien vereinbart worden. Bekannt wurde, daß 1983, 1986 und 1988 gemeinsame Übungen mit britischen Einheiten stattfanden. Gemeinsam mit den britischen Diensten war auch eine Ausbildung in der Schweiz in einem Bergstützpunkt, der den Decknamen »Alpengarten« erhalten hatte, geregelt worden. ferner wurde ein »Dossier Edelweiß« gefunden, das die Verlegung der Exilbasis der »P 26« im Kriegsfall nach London festlegte. Schließlich besorgte der britische Geheimdienst für die Schweizer Partner militärische Ausrüstungen. In über das ganze Land verteilte Waffen- und Versorgungsdepots befanden sich 1990 bei der Entdeckung modernste und einsatzbereite Waffen und Ausrüstungen.

Exilbasis in London

1979 geriet der Dienst »D« von Oberst Bachmann in die internationalen Schlagzeilen, als ein Agent von ihm in Österreich verhaftet wurde. Der Spion war von dem UNA-Obersten nach Österreich geschickt worden, um eine Raumverteidigungsübung des Bundesheeres aufzuklären. Nach seiner Verurteilung schob ihn Wien in die Schweiz ab. Da er sich in Österreich als Angehöriger des Dienstes »D« zu erkennen gegeben und dazu ausgesagt hatte, wurde er in der Schweiz noch einmal vor Gericht gestellt - und wegen Landesverrats verurteilt.

Zur Sprache kamen auch Kontakte der »P 26« zur berüchtigten Gladio-Truppe in Italien und »Arbeitsbesuche« vor Ort. Hier ist nun einzuflechten, daß sich in Bern während es Kalten Krieges eine der wichtigsten CIA-Zentralen für Europa einquartiert hatte, in der für Gladio zuständige Geheimdienstoffiziere sich die Klinke in die Hand gaben und Top-Agenten vor ihren Einsätzen instruiert wurden. In Bern liefen wichtige Fäden des von der CIA geschmiedeten Komplotts gegen den mit der IKP zusammenarbeitenden Führer der italienischen Christdemokraten Aldo Moro zusammen. In die Roten Brigaden, die Moro im Frühjahr 1978 erst entführten und dann ermordeten, eingeschleuste Agenten tauchten kaum zufällig immer wieder in der Schweiz auf.

Vor diesem aufschlußreichen Hintergrund erscheint es nachgerade unwahrscheinlich, daß in dieser als Tummelplatz der CIA und anderer westlicher Geheimdienste bekannten Schweiz deren UNA und dessen »P 26« keine Kontakte zu den »stay behind«-Partnern vor Ort gehabt haben sollen.

Die Parlamentarische Untersuchungskommission stellte fest, daß die »P 26« als Geheimorganisation wirkte, für die es weder eine rechtliche Grundlage, noch eine parlamentarische Kontrolle oder politische Zuständigkeit gab und die somit verfassungswidrig agierte. Es bestand »die Gefahr eines Mißbrauchs durch Selbstaktivierung«, hieß es im Bericht der Parlamentarier. Zu den Einsatzplänen der »P26« habe auch die Variante eines »Umsturzes im Inneren« gehört. Weiter: »Dieses Szenario schließt nicht aus, daß die Organisation auch bei einem in demokratischen Formen zustande gekommenen Machtwechsel eingesetzt werden könnte.« Dem habe auch entsprochen, daß der militärische Geheimdienst, darunter die UNA, entgegen ihrem Auftrag auch im Inland spionierte. Linke und Grüne sahen, ähnlich wie bei der Praktizierung der Spannungstrategie durch Gladio in Italien, die »P 26« in die Sprengung von Strommasten in der Nordschweiz und die Bedrohung prominenter AKW-Gegner bei den Auseinandersetzungen um das AKW Kaiseraugst verwickelt.

»P 26«-Chef Cattelan und der frühere Generalstabschef Hans Senn mußten sowohl Ähnlichkeiten mit der »stay behind«-Struktur einräumen als auch die Zugehörigkeit zum »Haproon«-System und die Zusammenarbeit mit Großbritannien zugeben, leugneten jedoch eine Zugehörigkeit der Schweizer Geheimarmee zur NATO. Sie behaupteten ferner, das Parlament in Bern habe von der Existenz der Geheimorganisation gewußt.

Nach Abschluß der Parlamentarischen Untersuchung sollte die »P 26« auf Beschluß der Regierung aufgelöst werden. Bis heute wird in der Schweiz bezweifelt, ob die Geheimarmee tatsächlich aufgelöst wurde, zumal Cattelan und andere Militärs offen Widerspruch anmeldeten. Der »P 26«-Chef sprach wiederholt, darunter auch im Schweizer Fernsehen, davon, daß es sich lediglich um einen »Sistierungsbeschluß« handele. Im Sicherheitsbericht von 1990 wurde weiterhin betont, »militärischen Widerstand auch in besetzten Gebieten« zu organisieren. In der Weltwoche konnte noch im August 1996 der Divisionär a.D. Gustav Däniker offen gegen die Kritiker der »P 26« zu Felde ziehen und die Notwendigkeit der »inneren Unruhebekämpfung« hervorheben.

»Die geheime Truppe dürfte nur schlafen gelegt worden sein«, schrieb die Zoom 1996. Signalisiert der jetzige Geheimdienstskandal, daß sie inzwischen wieder hellwach ist? Verteidigungsminister Ogi wich einer klaren Antwort aus und beschränkte sich darauf zu sagen: »Ich bin nicht sicher, ob ich alles weiß.« Die sozialdemokratischen und grünen Parlamentarier nehmen das zum Anlaß, erneut eine parlamentarische Untersuchung der Geheimdienstmachenschaften zu fordern und verlangen, nicht nur den Fall Bellasi zu untersuchen, sondern auch, ob der seinerzeitige Beschluß über die Auflösung der »P 26« konsequent durchgeführt wurde.


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