Schwarzer Faden - Nr. 63, Heft 1/1998



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Noam Chomsky
Consent without Consens - Unterstellte Zustimmung
Überlegungen zu Theorie und Praxis der Demokratie
 

Eine akzeptable demokratische Gesellschaft sollte auf dem Grundsatz der "Zustimmung der Regierten" aufgebaut sein. Dieses Prinzip kann - obgleich ihm fast jeder zustimmt - dennoch kritisiert werden, weil es nämlich gleichzeitig zu stark und zu schwach ist. Zu stark, denn es unterstellt bereits, daß die Menschen regiert und kontrolliert werden müssen. Zu schwach, denn selbst der brutalste Diktator bedarf eines Mindestmaßes an "Zustimmung der Regierten" und gewinnt es meist auch, und keineswegs immer nur durch Gewalt.

Wie haben sich die freiheitlichen Demokratien in dieser Frage verhalten? Dem will ich hier nachgehen. Die breiten Massen versuchen seit langem und mit wechselndem Erfolg, mehr Mitwirkungsrechte an ihren eigenen Angelegenheiten zu erkämpfen. Gleichzeitig wurde zur Verteidigung des Widerstandes der Elite gegen die Demokratie ein lehrreiches Gedankengebäude errichtet. Wenn wir die Vergangenheit verstehen und die Zukunft mitgestalten wollen, sollten wir also nicht nur darauf schauen, was sich in der Praxis abspielt, sondern uns auch das dazugehörige Theoriegerüst näher anschauen.

Der klassische Ansatz ist bereits 250 Jahre alt und stammt von David Hume. Er hatte sich darüber gewundert, "wie leicht doch die Vielen sich von den Wenigen beherrschen lassen und mit welch selbstverständlicher Unterwürfigkeit die Menschen den Regierenden ihr Schicksal anvertrauen". Er empfand dies als überraschend, "sind doch die Beherrschten stets die Stärkeren". Einmal darüber im klaren, würden die Menschen sich erheben und ihre Herrscher stürzen. Er zog daraus den Schluß, jede Regierung müsse sich auf eine Kontrolle über die Meinungen der Menschen stützen, und dieses Prinzip gelte "für alle Regierungen, von den schlimmsten Despotien und Militärstaaten bis zu den freiesten Volksherrschaften".

Nun hat Hume gewiß unterschätzt, wie wirkungsvoll nackte Gewalt sein kann. Eine bessere Formulierung seines Prinzips würde lauten: Je "freier und volksnäher" eine Regierung ist, desto stärker ist sie auf Meinungskontrolle angewiesen, um sich des Gehorsams der Regierten sicher sein zu können.

Daß diese überhaupt gehorchen müssen, wird übrigens von links bis rechts fast durchgängig als selbstverständlich hingenommen. Ihre Zustimmung äußern dürfen die demokratisch regierten Menschen - mehr aber nicht. Oder wie es progressive Lehren unserer Zeit ausdrücken: Die Menschen dürfen "Zuschauer" sein, nicht aber "Mitwirkende" - mit der einzigen Ausnahme, daß sie gelegentlich unter verschiedenen Inhabern der Macht eine Auswahl treffen können. Und diese Ausnahme wird auch nur auf dem Feld der Politik gewährt. Von Wirtschaftsfragen - wo der Weg einer Gesellschaft in erster Linie festgelegt wird - bleibt die breite Masse völlig ausgeschlossen; hier weisen unsere gängigen Demokratietheorien der Allgemeinheit keinen Platz zu.

"Landleute wie wir, die wissen was not tut"

Wiederholt hat sich in der Geschichte gegen derartige Auffassungen Widerstand erhoben, der dann mit den ersten demokratischen Aufständen der Moderne - im England des 17. Jahrhunderts - eine besondere Dynamik entwickelte. Die Auseinandersetzungen jener Jahre werden zumeist als Konflikt zwischen König und Parlament hingestellt. In Wirklichkeit aber wollten viele Menschen - nicht nur damals - keine der streitenden Parteien an der Macht sehen. Vielmehr forderten ihre Flugblätter die politische Macht für "Landleute wie wir, die wissen, was uns not tut", anstelle der "Ritter und feinen Herren", die nichts "von den Schmerzen der Menschen wissen" und die "uns auch nur unterdrücken werden".

Derartige Vorstellungen bereiteten den "Männern von Qualität", wie sie sich nannten (heute würden wir "den verantwortungsbewußt Denkenden" sagen), erhebliches Unbehagen. Rechte wollten diese dem Volk schon gewähren, aber immer in Grenzen und mit der Maßgabe, daß man unter dem "Volk" keineswegs den verwirrten und unwissenden Pöbel zu verstehen habe. Wie aber ein solches Gesellschaftsprinzip in Einklang bringen mit der Lehre von der "Zustimmung der Regierten", die zu jener Zeit nicht mehr so einfach zur Seite geschoben werden konnte? Ein Lösungsvorschlag kam von dem angesehenen Moralphilosophen Francis Hutcheson, einem Zeitgenossen Humes. Danach wäre im Fall, daß die Regierung etwas gegen allgemeinen Widerspruch durchsetzt, das Prinzip der "Zustimmung der Regierten" dann nicht verletzt, wenn die "dumpfen" und "vorurteilsbehafteten" Massen dem, was in ihrem Namen getan wurde, zu einem späteren Zeitpunkt "von Herzen zustimmen". Das hier verkündete Prinzip bezeichnete später der nordamerikanische Soziologe Franklin Henry Giddings als das der "Unterstellten Zustimmung".

Während Hutcheson sich um die Kontrolle des Pöbels im eigenen Land Gedanken machte, ging es Giddings darum, im Ausland für Ordnung zu sorgen. Seine Schriften behandelten die Philippinen, die damals gerade durch die US-Armee befreit wurden. Wenn diese dabei auch gleich einige hunderttausend Seelen aus dem irdischen Jammertal befreite, konnte man in den Zeitungen lesen, dieses "Abschlachten der Eingeborenen nach englischem Vorbild" würde jene "irregeleiteten Geschöpfe" (sie leisteten ja Widerstand) jedenfalls dazu bringen, "unsere Waffen zu respektieren"; später würden auch sie noch erkennen, daß wir ihnen "Freiheit und Glück" verschaffen wollten. Dies hört sich etwas zivilisierter an, wenn Giddings es als das "Prinzip der unterstellten Zustimmung" in die Worte kleidet: "Wenn dann nach Jahren [die Besiegten] zugeben müssen, daß die angefochtenen Aktionen dem höchsten Interesse gedient hatten, besteht Grund zu der Behauptung, hier sei die Macht mit Zustimmung der Regierten ausgeübt worden" - vergleichbar etwa einer Mutter, die ihr Kind daran hindert, auf eine stark befahrene Straße zu laufen.

Was die Lehre von der "Zustimmung der Regierten" wirklich bedeutet - hier zeigt es sich. Das Volk hat den Herrschern zu gehorchen, und im übrigen genügt seine "unterstellte Zustimmung". In einer Tyrannis können gewaltsame Machtmittel eingesetzt werden, ebenso im Ausland. Wo der Gewalt Grenzen gesetzt sind, muß die Zustimmung der Regierten durch Hilfsmittel herbeigeführt werden, wie sie auf liberal-progressiver Seite zur "Konsensfabrikation" entwickelt worden sind.

Für die Wirtschaftsführer diente die gesamte riesige PR-Industrie von ihren Anfängen zu Beginn unseres Jahrhunderts bis heute dem Ziel, "das Denken der Allgemeinheit unter Kontrolle zu bringen". Sie warnten vor der "Gefahr, die von der politischen Macht ausgeht, welche die Massen neuerdings erobert haben". Notwendig sei ein Sieg in dem "ewigen Krieg um die Köpfe der Menschen", und dazu müsse man "jeden Bürger mit der Sache des Kapitalismus indoktrinieren, bis sie diese Melodie fehlerfrei vorwärts und rückwärts abspielen" könnten. Diese Worte haben sie in die Tat umgesetzt und damit die Geschichte der Moderne zentral geprägt. Richtig verstanden, läßt uns Humes Maxime auch nichts anderes erwarten, als daß die Wurzeln und Schwerpunkte der PR-Industrie gerade im "freiesten Land der Welt" zu finden sind.

Nur wenige Jahre nach Hume und Hutcheson sprangen die Probleme, die der englische Pöbel bereitet hatte, auf die aufständischen Kolonien in Nordamerika über. Die Gedanken der "Männer von Qualität" wurden fast wortgetreu von den Gründungsvätern aufgegriffen. So äußerte einer von ihnen: "Wenn ich von der Allgemeinheit spreche, dann umschließt das nur deren vernunftbeseelten Teil. Wer unwissend und vulgär ist, kann ebenso wenig beurteilen, wie eine Regierung arbeitet, wie er die Regierungszügel führen kann." Für seinen Kollegen Alexander Hamilton war das Volk ein "mächtiges Tier" und bedurfte der Zähmung. Wurden Farmer in ihrem Unabhängigkeitsgeist zu aufsässig, so mußte man ihnen eben - notfalls mit Gewalt - beibringen, daß sie die in den revolutionären Flugschriften verkündeten Ideale nicht allzu wörtlich nehmen durften. Vertreter des gemeinen Volkes sollten nicht Landleute ihresgleichen sein, die um seine Schmerzen wissen, sondern Grundbesitzer, Kaufleute, Anwälte und andere "verantwortungsbewußt Denkende", auf die bei der Verteidigung von Privilegien Verlaß ist.

"Die das Land besitzen, sollen auch regieren"

John Jay, Präsident des "Continental Congress" und erster Inhaber des obersten Richteramts, faßte die herrschende Doktrin in die klaren Worte: "Die das Land besitzen, sollen es auch regieren." Blieb die Frage: Wer besitzt das Land? Die Antwort darauf gaben die florierenden Privatkonzerne nebst den zu ihrem Schutz aufgebauten institutionellen Strukturen; dennoch bleibt es schwierig genug, die Öffentlichkeit auf die Zuschauerrolle zu beschränken.

Für jeden, der die Welt von heute und morgen verstehen will, stellen die USA gewiß das beste Fallbeispiel dar. Zum einen wegen ihrer unvergleichlichen Machtposition, zum anderen wegen ihrer stabilen demokratischen Institutionen. Zudem kamen die USA dem Ideal einer tabula rasa so nahe wie sonst kaum ein Land. Amerika, so stellte Thomas Paine im Jahre 1776 fest, könne "so glücklich sein, wie es nur will, fängt es doch als unbeschriebenes Blatt an." Die Eingeborenen waren weitgehend vernichtet. Überreste vormals in Europa zu findender Strukturen gab es kaum, woraus sich auch der unterentwickelte Sinn für soziale Vertragsverhältnisse und Hilfeleistungen erklärt, die noch in vorkapitalistischen Institutionen entstanden waren. Mehr als sonst üblich konnte hier die politische Ordnung der Gesellschaft bewußt konstruiert werden. Da die Geschichte keine konstruierten Experimente erlaubt, stellen die USA den relativen Idealfall einer staatskapitalistischen Demokratie dar.

Zudem war ihr Chefarchitekt, James Madison, ein höchst kluger politischer Kopf. In den Verfassungsdebatten warnte er: "Sollte in England das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden, dann würde das Grundeigentum in Gefahr geraten. Denn dann würde ein Agrargesetz nicht lange auf sich warten lassen", und Grundbesitz würde an die Landlosen verteilt werden. Dergleichen Unrecht müsse natürlich durch entsprechende Verfassungsbestimmungen verhindert werden: "Die immerwährenden Interessen des Landes müssen gewahrt bleiben" - womit er die Besitzrechte meinte. Für Madison war eine Regierung vor allem verantwortlich dafür, "die wohlhabende Minderheit vor der Mehrheit zu schützen." Diesem Leitsatz sind die Demokratien bis auf den heutigen Tag treu geblieben.

In der Öffentlichkeit kam Madison regelmäßig auf die Rechte von Minderheiten im allgemeinen zu sprechen. Er dachte dabei aber offensichtlich an eine ganz bestimmte Minderheit: die der Wohlhabenden, die es vor der Mehrheit zu schützen galt. Auch die politische Theorie unserer Tage unterstützt seine Forderung, daß "unter einer gerechten und freien Regierung sowohl Personen- als auch Eigentumsrechte wirksam geschützt werden". Doch auch hier müssen wir genauer hinschauen. Nicht das Eigentum besitzt Rechte, sondern die Person hat ein Recht auf Eigentum. Ich mag ein Recht auf mein Auto haben; das Auto selbst hat keine Rechte. Außerdem ist das Recht auf Eigentum insofern anders geartet als andere Rechte, als das konkrete Recht einer Person einer anderen Person dasselbe Recht verwehrt. Wenn mein Auto in meinem Eigentum steht, kann es nicht deines sein; hingegen würde in einer gerechten und freien Gesellschaft mein Recht auf freie Rede dein gleichartiges Recht nicht tangieren. Madison verkündet also das Prinzip, daß einerseits die Rechte der Personen ganz allgemein garantiert werden müssen, daß aber darüber hinaus besondere Garantien für eine spezielle Klasse von Personen - nämlich die Eigentümer - einzuführen sind.

Vermutlich würde, so fürchtete Madison, die in der Demokratie liegende Drohung im Laufe der Zeit in dem Maße anwachsen, wie die Zahl derer zunahm, die "auf der Schattenseite des Lebens stöhnen und heimlich nach einer gerechteren Verteilung seiner Segnungen lechzen." Ihr Einfluß ließ ihn Furcht empfinden. Ihn bedrückten die bereits auszumachenden "Anzeichen einer gleichmacherischen Geisteshaltung", und so warnte er vor einer "gefährlichen Zukunft", sollten durch das Wahlrecht "diejenigen, die über kein Eigentum verfügen, Macht über dasselbe gewinnen." Und weiter: "Wer weder Eigentum besitzt noch darauf hoffen kann, dürfte kaum ein Herz für Eigentumsrechte entwickeln." Demnach lag für ihn die Lösung darin, die politische Macht für diejenigen zu reservieren, die "aus dem nationalen Reichtum stammen und diesen repräsentieren" - für ihn übrigens auch "die fähigeren Persönlichkeiten" im Gegensatz zur zerrissenen, desorganisierten breiten Masse.


 

Ein PR-Problem

Im Ausland erhebt dieser "Geist der Gleichmacherei" natürlich auch sein Haupt. Wie man sich dieses Problems annimmt, kann uns viel über die "Theorie der real existierenden Demokratie" lehren. Beispiele liefern interne Papiere, in denen unsere Führer kein Blatt vor den Mund nehmen müssen.

Nehmen wir etwa Brasilien, den "Koloß des Südens", dem Präsident Eisenhower im Jahre 1960 einen Besuch abstattete. Er versicherte den Brasilianern: "Von unserem sozial eingestellten System des freien Unternehmertums werden alle profitieren, gleich ob Besitzende oder einfache Arbeiter (...) In dieser Freiheit unter einem demokratischen System kann der Arbeiter die Freuden des Lebens sichtbar genießen." Und unser Botschafter fügte noch hinzu, durch unseren Einfluß seien "so revolutionäre Dinge wie freie Schulbildung für alle, Gleichheit vor dem Gesetz, eine vergleichsweise klassenlose Gesellschaft, eine demokratisch verantwortliche Regierung, freier Wettbewerb im Geschäftsleben [und schließlich] ein sagenhafter Lebensstandard der breiten Masse" ins Land gebracht und dadurch "die alte Ordnung in Südamerika" überwunden worden.

Doch die Brasilianer nahmen die frohe Botschaft aus dem Norden äußerst kühl auf. "Wie Kinder" verhielten sich die Eliten in Lateinamerika, meinte Außenminister John Foster Dulles vor dem Nationalen Sicherheitsrat; sie seien "zur Selbstregierung weitgehend unfähig." Schlimmer noch sei, daß die USA "beim Einfluß auf das Denken und Fühlen der einfachen Menschen hoffnungslos hinter der Sowjetunion zurückliegen." Sorgenvoll blickten Dulles und Eisenhower auf die Fähigkeit der Kommunisten, "Massenbewegungen zu steuern", eine Fähigkeit, "der wir nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Sie finden Widerhall bei den Armen und wollen immer nur die Reichen ausplündern."

Anders gesagt, bringen wir also die Menschen nur mit Schwierigkeiten dazu, unsere Lehre von der Ausplünderung der Armen durch die Reichen zu akzeptieren; hier lag noch ein PR-Problem.

Kennedys Antwort auf dieses Problem lag in einer Rollenverschiebung für die lateinamerikanischen Militärs: Statt der "Verteidigung der Hemisphäre" sollten sie sich der "inneren Sicherheit" widmen. Umgehend folgten der Militärputsch in Brasilien und weitere schwerwiegende Entwicklungen. Man hatte in Washington das brasilianische Militär als eine "Insel der Vernunft" eingeschätzt, weshalb Kennedys Botschafter in Rio, Lincoln Gordon, den Putsch als "demokratischen Aufstand" begrüßte. "Der entscheidendste Sieg der Freiheit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts." Da Gordon zuvor in Harvard Wirtschaftswissenschaften gelehrt hatte, wies er noch darauf hin, daß dieser Sieg "das Klima für private Investitionen erheblich fördern" dürfte - ein weiterer Beitrag zum rechten Verständnis der Begriffe "Freiheit" und "Demokratie".

Zwei Jahre später konnte Verteidigungsminister Robert McNamara seinen Kollegen mitteilen, im großen und ganzen habe "die Haltung der USA gegenüber dem Militär in Lateinamerika ihre Ziele erreicht." Man habe "die Bewahrung der inneren Sicherheit" erleichtert und "die militärische Führungsrolle der USA" hergestellt. Aufgrund der Hilfs- und Ausbildungsprogramme der Kennedy-Regierung war das lateinamerikanische Militär nunmehr seinen Aufgaben gewachsen. Beispielsweise der Aufgabe, jede Zivilregierung zu stürzen, "die in ihren Augen eine Gefahr für das nationale Wohl darstellt." Derartige Militäraktionen erschienen Kennedys Intellektuellen eben notwendig "innerhalb des lateinamerikanischen Kulturkreises." Auf ihre problemlose Durchführung sei Verlaß, nachdem ja das Militär "die Ziele der USA kennen und zur Richtschnur nehmen." So würde auch "der revolutionäre Machtkampf unter den Hauptströmungen innerhalb der [lateinamerikanischen] Klassenstruktur" in unserem Sinne ausgehen, nämlich im Sinne des Schutzes des Handels und "der Privatinvestitionen der USA", jener wirtschaftlichen Wurzel all unserer politischen Interessen in Lateinamerika.

Hier wird für Insider dokumentiert, was es mit dem sogenannten Kennedy-Liberalismus wirklich auf sich hatte. In der Öffentlichkeit wird natürlich ganz anders gesprochen. Glaubte man dem, so bliebe der wahre Hintersinn des Wortes "Demokratie" ebenso unverständlich wie die damalige Weltordnung - und die künftige, in der ja dieselben Hände die Zügel führen.

Für seriöse Wissenschaftler liegen die Grundfakten ohnehin offen zutage. Einer von ihnen ist Lars Schoultz. Er ist einer der besten Lateinamerika-Experten und hat in einem bedeutenden Buch die von den USA aufgebauten und gestützten "Staaten für nationale Sicherheit" abgehandelt. Deren Lebenszweck sei es, "ein für alle mal eine politische Mitbestimmung der Bevölkerungsmehrheit [Hamiltons "mächtiges Tier"] , von der in unseren Augen eine Bedrohung der gesellschaftlich-ökonomischen Privilegien ausgehen könnte, zu verhindern." Und im Inland wird - wenn auch mit anderen Mitteln - weitgehend dasselbe Ziel verfolgt.

Auch heute bietet sich unverändert das gleiche Bild. So nimmt Kolumbien in unserer Hemisphäre in der Verletzung der Menschenrechte den Spitzenplatz ein, gleichzeitig aber auch im Umfang der US-Militärhilfe. Als Vorwand dient der "Drogenkrieg", der aber nur ein nützliches Märchen darstellt, worüber sich die Menschenrechtsgruppen mit der Kirche und allen anderen einig sind, die jemals hinter die erschreckenden Greuel sowie die Querverbindungen zwischen Drogenhändlern, Grundbesitzern, Militärs und paramilitärischen Hilfstruppen geschaut haben. Der staatliche Terror hat alle Volksorganisationen sowie die einzige unabhängige politische Partei zerschlagen; Tausende ihrer Aktiven wurden umgebracht, darunter Präsidentschaftskandidaten und Bürgermeister. Gleichwohl erfährt die stabile Demokratie Kolumbiens großes Lob, wodurch einmal mehr illustriert wird, was man unter "Demokratie" zu verstehen hat.

Besonders lehrreich ist zu sehen, wie man seinerzeit reagierte, als Guatemala erstmals mit der Demokratie experimentierte. Hier sind nämlich die geheimen Akten teilweise zugänglich, so daß wir ganz gut wissen, welches Denken damals hinter der Politik steckte. Im Jahre 1952 gab der CIA eine Warnung heraus, der zufolge "die radikale nationalistische Politik der Regierung von allen Bürgern des Landes aktiv oder passiv unterstützt" würde. Die Regierung "mobilisiere die bislang politisch apathische Landbevölkerung" und verschaffe sich "massenhafte Zustimmung" vermittels Arbeiterorganisationen, Landreformen und anderen, "mit der Revolution von 1944 in Zusammenhang gebrachten" Maßnahmen - einer Revolution, die eine "kräftige nationale Bewegung hervorgebracht hatte, um das Land von den Militärdiktaturen, der Rückständigkeit und dem ´Wirtschaftskolonialismus´ zu befreien, die seinen Charakter bis dahin geprägt hatten." Dieses Vorgehen der Regierung "traf sich mit der Loyalität und dem Selbstgefühl fast aller politisch denkender Guatemalteken". Wie der Nachrichtendienst des US-Außenministeriums meldete, legte die demokratische Führung Guatemalas "großen Wert auf die Bewahrung eines offenen politischen Systems" - womit sie allerdings die Kommunisten in die Lage versetzte, "ihr Tätigkeitsgebiet auszudehnen und sich bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Sympathien zu erwerben." Das Heilmittel für diese Schwachpunkte der Demokratie lieferten - mit voller Unterstützung durch die USA - der Putsch von 1954 und das seither andauernde Terrorregime.

Auch aus einem anderen Winkel läßt sich ein kleiner Blick auf die Realität werfen. Die Rede ist von NAFTA, kürzlich in Kraft getreten und alles andere als ein "Freihandelsabkommen". Vielmehr ist es hochprotektionistisch und soll nur dazu dienen, die asiatische und europäische Konkurrenz draußen zu halten. Wenig prinzipientreu ist es auch, wenn die US-"Exporte" nach Mexiko zu ca. 50% überhaupt nicht auf den mexikanischen Markt gelangen, sondern nur jenseits der Grenze von billigeren Arbeitskräften, laxeren Umweltbestimmungen u.dgl. profitieren, um dann - immer noch innerhalb desselben Unternehmens und von diesem kontrolliert - als "Importe" hierher zurückzukehren. Da es sich immerhin um einen Vertrag für Nordamerika handelt, ist die Bezeichnung wenigstens nicht gänzlich falsch.

Die goldene Zukunft, die NAFTA allen bescheren sollte, läßt sich auch nicht mehr aufrechterhalten. Wie manche Parteigänger inzwischen zugeben, "lag der tiefere Sinn der NAFTA nicht in einer Förderung des Handels, sondern in der Zementierung der mexikanischen Wirtschaftsreformen" (so die Zeitschrift Foreign Affairs). Mexiko sollte "unlösbar an die Reformen gebunden" werden, die dem Land ein "Wirtschaftswunder" beschert hatten - wenn schon nicht der verelendeten Masse, so doch den Reichen dort und den Investoren hier. Von dieser unlösbaren Bindung" erhofft man sich auch die Abwehr einer Gefahr, die 1990 in Washington auf einem Lateinamerika-Strategie-Workshop ausgemacht worden war, die Gefahr einer "Demokratischen Öffnung, durch die in Mexiko eine Regierung ans Ruder kommt, die aus ökonomischen und nationalistischen Gründen sich gegen die USA wenden und somit eine Belastung für die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Ländern werden könnte." Wenn der Politik weniger Möglichkeiten offenstehen, erscheint die Demokratie gleich viel weniger bedrohlich. In die gleiche Richtung zielt das "So wenig Staat wie möglich" der Neoliberalen.

Wer für die Kinder dieser Welt Verantwortung trägt, hat es wirklich schwer, und so erstaunt es nicht zu hören, daß die "demokratischen Impulse" aus Washington so häufig wirkungslos verpuffen oder sich in Rhetorik erschöpfen. Ich möchte aus einer ausgezeichneten Analyse von Reagans Kreuzzug für die Demokratie zitieren. Ihr Autor, Thomas Carothers, war unter Reagan im Außenministerium mit der Materie befaßt und bezeichnet sich daher selbst als Insider. Ihm zufolge war dieses Programm "ehrlich gemeint", scheiterte allerdings dennoch, und dies sogar nach einem regelmäßigen Muster. War nämlich Washingtons Einfluß infolge der großen Entfernung relativ schwach - wie etwa in Südamerika -, so gab es auch echte Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie, die zwar von der Reagan-Regierung zunächst bekämpft, deren spätere Erfolge denn aber vereinnahmt wurden. Mehr in unserer Nähe, wo wir stärkeren Einfluß ausüben konnten, blieben die Erfolge hingegen sehr begrenzt. Die USA suchten also, so Carothers, "die Grundlage ... undemokratischer Gesellschaften" zu bewahren und "einen vom Volk getragenen Wechsel" zu verhindern. Im Gefolge ihrer Vorgänger setzte auch Reagan "vordemokratische politische Mittel ein, um radikalen Veränderungen entgegenzuwirken. Zugelassen waren nur begrenzte, von oben gesteuerte demokratische Veränderungen, von denen für die überkommenen Machtstrukturen, mit denen die USA vertraut waren, keine Gefahr ausgehen würde."

Bei den internationalen Institutionen hat es die gleichen Probleme gegeben. So ernteten die Vereinten Nationen anfangs große Bewunderung, waren sie doch ein verläßliches Instrument der US-Politik. Dann kam es aber zur Entkolonisierung und mit ihr zu der bald so genannten "Tyrannei der Mehrheit". Seit den 60er Jahren nahm Washington in der Häufigkeit der Vetos im Sicherheitsrat den ersten Platz ein (An zweiter Position lag England, noch weit vor Frankreich auf dem dritten Platz). Auch in der Vollversammlung standen wir häufig allein oder mit wenigen Satellitenstaaten gegen die Mehrheit. Alsbald fiel die UNO in Ungnade, und in den Medien begann man sich ernüchtert zu fragen, warum denn die Welt "gegen die USA stünde". Daß vielleicht die USA gegen die Welt stehen könnten, dieser bizarre Gedanke kommt niemandem.

Aus ganz ähnlichen Gründen betrachten die USA auch die Urteile des Internationalen Gerichtshofs nicht mehr als bindend. Zwar sei dies nach dem Krieg zunächst der Fall gewesen, aber damals - so das Außenministerium - seien ja auch die meisten UN-Mitglieder "Verbündete der USA und mit ihnen in Fragen der Weltordnung einer Meinung" gewesen. Dies habe sich nun geändert. "Von vielen von ihnen ist keine Unterstützung mehr zu erwarten," oder auch: "In vielen Fragen der internationalen Politik stoßen wir bei immer derselben Mehrheit auf Widerstand." Wir müssen uns demnach "vorbehalten, ob wir uns im Einzelfall einer Gerichtsentscheidung beugen oder nicht." Wir können auch nicht zulassen, daß der Gerichtshof sich "zu Streitfragen äußert, die vornehmlich unserer eigenen Rechtsprechung unterliegen, so wie wir sie verstehen." Da ging es nämlich um unsere Aktionen gegen Nicaragua; der Gerichtshof hatte diese als "unzulässigen Einsatz von Gewalt" eingestuft, also als internationalen Terrorismus, wo sie doch unserer Meinung nach "unserer eigenen Rechtsprechung" unterworfen waren. Diese Haltung wurde kürzlich auch von Clintons UNO-Botschafterin Madeleine Albright mit der an den Sicherheitsrat gerichteten Botschaft bekräftigt, Washington würde "multilateral wo möglich, doch unilateral wo nötig" agieren.

Wenn ich weiter oben davon sprach, daß das verbreitete Demokratieverständnis auf Madison zurückzuführen sei, so war das nicht ganz fair. Madison war nämlich - hierin Adam Smith und anderen Vätern des klassischen Liberalismus gleich - vorkapitalistisch und antikapitalistisch zugleich. Als Regierung stellte er sich "aufgeklärte Staatsmänner" und "wohlmeinende Philosophen" vor, die "in ihrer Weisheit am ehesten die wahren Interessen ihres Landes identifizieren" würden. Durch "Entwicklung und Verfeinerung der öffentlichen Meinung" würden sie - die Aufgeklärten und Wohlmeinenden - die wahren Interessen des Landes vor den "Verirrungen" der demokratischen Mehrheit schützen.

Madison mußte sich rasch eines anderen belehren lassen. Die "wohlhabende Minderheit" nutzte ihre neue Macht auf neue Weise - ganz wie es zuvor Adam Smith beschrieben hatte, als er von jener "bösartigen Maxime" der Oberschicht sprach: "Alles für uns, und nichts für die anderen." Schon 1792 wies Madison darauf hin, in dem sich neu entwickelnden kapitalistischen Staat würden "die Pflichten gegenüber der Allgemeinheit durch die Triebkraft der Privatinteressen ersetzt" und dadurch "unter dem Mantel einer scheinbaren Freiheit vieler einigen wenigen die Führungsrolle verschafft." Es herrsche, so klagte er, "eine rücksichtslose Verkommenheit"; die Privateigentümer würden zur "Prätorianergarde der Regierung - nämlich ihr Werkzeug und zugleich ihr Tyrann, von ihr durch Geschenke bestochen und sie dennoch durch Wort und Tat in Schach haltend." Den Schatten, den sie über die Gesellschaft werfen, bezeichnete John Dewey später mit dem Wort "Politik". Wie Dewey, einer der führenden Philosophen unseres Jahrhunderts und ein Exponent des nordamerikanischen Liberalismus, herausstellte, wird Demokratie zu einem nichtssagenden Begriff, wenn "alles Leben im Land" unter die Kontrolle der Großindustrie gerät, kraft deren Herrschaft "über die Produktionsmittel, den Handel, die Werbung, das Transport- und Kommunikationswesen, über die Presse und andere Propagandainstrumente." Seiner Meinung nach sollten in einer freiheitlichen Demokratie die Arbeiter "über ihren industriellen Bereich selbst bestimmen" können, statt bloße Werkzeuge in der Hand der Arbeitgeber zu sein. Gedanken wie dieser, aus dem klassischen Liberalismus und der Aufklärung erwachsen, beflügeln allerdings immer aufs neue den Kampf um die Rechte der einfachen Menschen, nicht nur in den USA.

Trotz allem, was sich in den 200 Jahren seit Madison verändert haben mag, sind seine warnenden Worte aktueller denn je. So gelten sie auch für die Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Reiche privater Gewaltherrschaft, die ihre exzessive Macht vor allem der Rechtsprechung verdanken. Sie sind im innersten totalitär, denn die - gerade auch von progressiven Stimmen - zu ihrer Rechtfertigung herangezogenen Theorien sind in ihren Grundzügen dem Faschismus und Bolschewismus verwandt. Nach wie vor sind sie "zugleich Werkzeug und Tyrann" (Madison) der Staaten, denn diese - weitgehend von ihnen beherrscht - kommen ihnen in großzügigster Weise entgegen. Sie dominieren auch nicht nur den Staat, sondern kontrollieren die Binnen- und Außenwirtschaft, das Informationswesen und die Erziehung, was einen an Madisons Sorge denken läßt: "Eine Volksregierung, die es dem Volk verwehrt, sich zu informieren, kann nur ein Vorspiel zu einer Farce oder einer Tragödie - oder zu beidem - sein."

Werfen wir einmal einen genaueren Blick auf die Theorien, mit deren Hilfe die modernen politischen Demokratieformen umgesetzt wurden. Es gibt ein wichtiges Handbuch der PR-Industrie aus der Feder eines ihrer Exponenten, Edward Bernays, und dort findet sich alles ganz genau beschrieben. "Ein wichtiges Element einer Demokratie ist die bewußte und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der breiten Masse." So hebt Bernays an, um dann fortzufahren, zur Erfüllung dieser entscheidenden Aufgabe müßten "die intelligenten Minderheiten ständig und systematisch Propaganda betreiben". Denn nur sie, die "die Denk- und Verhaltensmuster der Massen verstehen", könnten "die Drähte ziehen, an denen die Öffentlichkeit letztlich hängt." Daher habe sich "unsere Gesellschaft darauf geeinigt, den freien Wettbewerb durch Propaganda und Führung zu gestalten" - also wieder mal jene "unterstellte Zustimmung". Die Propaganda gibt der Führung die Mittel in die Hand, "das Denken der Massen zu formen" und dadurch zu erreichen, daß diese "ihre soeben errungene Macht in die gewünschte Richtung wirken lassen." So könne die Führung "das öffentliche Denken durchaus ebenso straff reglementieren wie eine Armee ihre Soldaten." Hier, in diesem "ingenieurmäßigen Aufbau von Konsens", liegt "das Herzstück aller demokratischen Prozesse" - so Bernays 1949, kurz bevor er von der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie für seine Arbeiten geehrt wurde.

Bernays war ein guter New-Deal-Liberaler und verdankte seine Schulung Woodrow Wilsons Ausschuß für Öffentlichkeitsarbeit, der ersten staatlichen Propagandaeinrichtung in den USA. "Die Kriegspropaganda war ungeheuer erfolgreich, und das öffnete der intelligenten Elite die Augen für die Möglichkeiten, die sich für eine Beeinflussung der Öffentlichen Meinung boten," schreibt Bernays in Propaganda, seinem PR-Handbuch. Was der intelligenten Elite dabei wohl entgangen war: Ihr "ungeheurer Erfolg" verdankte sich zum nicht geringen Teil gewissen Propagandamärchen über die Grausamkeiten der deutschen Hunnen, und diese Märchen wiederum stammten aus der Werkstatt des Britischen Informationsministeriums, das - ganz im Vertrauen gesagt - seine Aufgabe darin sah, "das Denken möglichst vieler Menschen zu beeinflussen."


 

Nicht Beteiligte, sondern "Zuschauer der Handlung"

Dies zählt alles unter die reine Lehre Wilsons, weshalb die Politologie auch vom "Wilsonschen Idealismus" spricht. Persönlich war Wilson der Meinung, zur Bewahrung von "Stabilität und Rechtschaffenheit" bedürfe man einer Gentleman-Elite mit "hohen Idealen". Und ein weiteres Ex-Mitglied des Propaganda-Ausschusses, Walter Lippmann, begründete in seinen vielbeachteten Essays zum Thema Demokratie, warum der intelligenten Minderheit der "Verantwortungsbewußten" die Entscheidungshoheit gebührt. Lippmann war übrigens ein halbes Jahrhundert lang der angesehenste nordamerikanische Journalist und ein beachteter Kommentator öffentlicher Vorgänge. Für ihn stellte die intelligente Minderheit eine "spezialisierte Klasse" dar; ihr obliege es, der Politik Ziele zu setzen und dabei "für eine gesunde Öffentliche Meinung zu sorgen". Die breite Masse, die ja aus "unwissenden, quertreibenden Außenseitern" besteht, habe dieser Klasse keinesfalls hereinzureden. Nicht Beteiligte, sondern "Zuschauer der Handlung" sei ihre "Funktion". Einzige Ausnahme hiervon sind die periodischen Wahlen; dort darf man unter Angehörigen der Spezialistenklasse eine Auswahl treffen. Oder um im Jargon der Weltbank zu sprechen: Die Führer haben ein Anrecht auf die "Isolation der Technokraten".

Harold Lasswell, einer der Begründer der modernen Politikwissenschaft, wies in der Enzyklopädie der Sozialwissenschaften darauf hin, die intelligente Elite müsse sich über die "Unwissenheit und Dummheit der Massen" im klaren sein und dürfe keinesfalls "irgendwelchen Demokratie-Dogmen über die Menschen als ihre eigenen besten Interessenvertreter" unterwerfen. Wir können das alles am besten beurteilen - nicht sie selbst. Zu ihrem eigenen Besten müssen die Massen unter Kontrolle gehalten werden, und weil man in einer Demokratie nicht auf Gewalt zurückgreifen kann, müssen sich die Sozialingenieure "einer völlig neuen Einflußtechnik bedienen, die hauptsächlich mit Propaganda arbeitet."

Das ist nun purer Leninismus. Progressive Demokratie-Theorie und Marxismus-Leninismus gleichen sich eben auffällig, was übrigens Bakunin schon sehr früh kommen sah.

Den Widerhall dieser Gedanken vernehmen wir heute noch - etwa, wenn der Harvard-Professor für Regierungswissenschaften Samuel Huntington in den ersten Jahren der Reagan-Regierung es für erforderlich hielt, unter Umständen "bei Interventionen oder anderen Militäraktionen den falschen Eindruck zu erwecken, das Ganze richte sich gegen die Sowjetunion. Schließlich sind die USA seit den Zeiten der Truman-Doktrin immer so verfahren." Auch lehrten die Regierungswissenschaften, es müßten "die Architekten der Macht solche Machtmittel entwickeln, die man nicht sehen, sondern nur spüren kann. Macht wirkt am dann stärksten, wenn sie im Dunkeln bleibt; im hellen Licht verflüchtigt sie sich." Um also den Konsens der Regierten zustande zu bringen, müsse man sie nicht nur über die eigentlichen politischen Ziele im unklaren lassen, sondern auch über die Kräfte, die das politische Leben überschatten. Und genau diese anspruchsvolle Aufgabe obliegt den Intellektuellen.


 

Das Volk denkt anders

Wenn also die Ansichten und Pläne der Wirtschaftskreise auch gegen den Widerstand der Allgemeinheit die Oberhand behalten, dann müssen wir nur die Begriffe "Konsens" oder "Zustimmung" richtig interpretieren, um einzusehen, daß dies mit "Zustimmung der Regierten" - nämlich mit "unterstellter Zustimmung" - geschieht. Es ist nicht einmal unfair, diese Charakterisierung auf Vorgänge in den USA anzuwenden. Oft wollen die Menschen etwas völlig anderes als was in Wirklichkeit passiert - vor allem in jüngster Zeit. Ein Vergleich soll etwas Licht darauf werfen, wie unsere Demokratie funktioniert.

Während früher ca. 50% der Leute der Meinung waren, die Regierung "verfolge Nutzen und Interessen einiger Weniger, nicht aber des Volkes", ist dieser Anteil inzwischen auf über 80% angestiegen. Für ebenfalls mehr als 80% ist das Wirtschaftssystem "im Kern unfair" und hat die arbeitende Bevölkerung zu wenig Einfluß auf das, was im Lande vorgeht. Über 70% meinen: "Die Wirtschaft besitzt zu viel Einfluß in zu vielen Bereichen." Und von 20 Menschen finden 19, die Konzerne "sollten gelegentlich etwas für ihre Mitarbeiter und Standortgemeinden tun, auch wenn das den Profit mindert.

"Trotz aller Märchen, die man uns erzählt: Sozialdemokratische Einstellungen halten sich hartnäckig im allgemeinen Bewußtsein; das galt sogar für die Reagan-Ära. Dabei bleiben diese Einstellungen noch weit hinter denjenigen zurück, denen wir die demokratischen Revolutionen verdanken. Im 19. Jahrhundert machten die nordamerikanischen Arbeiter bei ihren Herren nicht Bitte-bitte um etwas mehr Wohlwollen - nein, sie bestritten ihnen schlichtweg das Recht auf die Herrschaft. In den Arbeiterzeitungen las man: "Die Fabriken denen, die darin arbeiten", und konnte sich dabei auf die Ideale der Amerikanischen Revolution berufen, allerdings aus der Sicht des gefährlichen Pöbels.

Ein erhellendes Beispiel für die Lücke zwischen Rhetorik und Wahrheit lieferten die Kongreßwahlen des Jahres 1994. Man sprach von einem "politischen Erdbeben", einem "Erdrutschsieg", einem "Triumph des Konservatismus" als Ausdruck einer anhaltenden "Drift nach rechts", hatten doch die Wähler sich mit "überwältigender Mehrheit" für Newt Gingrichs ultrarechte Kampftruppe ausgesprochen, die ihnen "die Regierung vom Hals schaffen" würde und sie in die glücklichen Zeiten des Freien Marktes zurückzuführen versprach.

Die Fakten sehen anders aus. Der "Erdrutschsieg" beruhte auf einer hauchdünnen Mehrheit der abgegebenen Stimmen oder auf gerade 20% aller Wahlberechtigten. Zwei Jahre zuvor hatte es nicht viel anders ausgesehen; damals gewann aber die Demokratische Partei. Von den 20%, die für den "Triumph des Konservatismus" gestimmt hatten, stufte nur jeder sechste das Ergebnis als "Sieg für das Programm der Republikaner" ein. Und nur jeder vierte aus der Minderheit derjenigen, die überhaupt zur Wahl gegangen waren, hatte jemals etwas von dem "Amerikanischen Vertrag" gehört, in dem nämlich jenes Programm dargelegt war. Mit Einzelpunkten konfrontiert, wandte sich fast stets eine große Mehrheit dagegen. Ca. 60% der Bevölkerung  befürworteten eine Erhöhung der Sozialausgaben. Und ein Jahr darauf meinten 80%, die Bundesregierung müsse "den Verwundbarsten der Gesellschaft, vor allem den Armen und Alten, durch ein garantiertes Existenzminimum und entsprechende Sozialleistungen Schutz gewähren." 80-90% der US-Bürger sprechen sich für öffentliche Hilfen, von der Bundesregierung garantiert, für diejenigen aus, die nicht arbeiten können; das schließt auch eine Arbeitslosenversicherung, subventionierte Medikamente und Heimpflege für die Alten ein sowie ein Mindestmaß an Gesundheitsfürsorge und eine Rentenversicherung. Eine Dreiviertelmehrheit möchte ein staatliches Programm, das berufstätigen Müttern mit niedrigem Einkommen die Sorge für die Kinder abnimmt. Bedenkt man die unablässig verbreitete Propagandabehauptung, das Volk wolle gerade dies überhaupt nicht, dann muß die Widerstandskraft derartiger Vorstellungen um so mehr erstaunen.

Wie man bei Meinungsumfragen herausgefunden hat, sind die Wähler um so stärker gegen die Republikanische Partei und ihre Planungen für die Parlamentsarbeit eingestellt, je mehr sie darüber erfahren. Newt Gingrich, der Bannerträger dieser Revolution, war schon im Augenblick seines "Triumphs" unpopulär. Er ist dann sogar noch weiter abgesackt und inzwischen vermutlich die unbeliebteste Figur auf der Öffentlichen Bühne. So war es schon komisch anzusehen, wie in der 96er Wahl Gingrichs engste Mitarbeiter sich abmühten, nur ja jede Verbindung zu ihm und seinem Gedankengut abzustreiten. Gleich als erster ging in den Vorwahlen Phil Gram unter, der doch der einzige republikanische Abgeordnete unter den Kandidaten war, über viel Geld verfügte und stets genau das sagte, was - wenn man den Zeitungsberichten glauben sollte - die Wähler gern hören wollten. Im Januar 1996, sobald man den Wählern direkt gegenüberstand, verschwanden praktisch sämtliche politischen Kernpunkte in der Versenkung. Am krassesten zeigte sich dies in der Frage des Ausgleich des Haushaltsdefizits. Noch 1995 ging es nur darum, wie lange es dauern würde, ob 7 Jahre oder mehr. Mehrmals mußten während dieses Gerangels die Regierungsbehörden ihre Pforten schließen. Doch kaum waren die Vorwahlen eröffnet, redete kein Mensch mehr vom Haushalt. Überrascht stellte das Wall Street Journal fest, die Wähler hätten "ihre Fixierung auf den Haushaltsausgleich aufgegeben". In Wirklichkeit standen nämlich die Wähler, wie die Umfragen immer wieder belegten, einem unter auch nur einigermaßen realistischen Annahmen erzwungenen Haushaltsausgleich ablehnend gegenüber.

Genau genommen ging ein Teil der Öffentlichkeit durchaus mit der "Fixierung" der beiden Parteien auf den Haushaltsausgleich konform. Bei einer Umfrage vom August 1995 setzten 5% der Befragten das Defizit an die Spitze aller Probleme; eine vergleichbare Bedeutung hatte etwa die Obdachlosigkeit. Zufällig waren aber unter den 5% Defizitfixierten gerade die Leute, auf die es ankommt. "Amerikanische Wirtschaft fordert Haushaltsausgleich," berichtete Business Week über eine Umfrage unter Führungskräften. Äußert sich aber die Wirtschaft, dann tun das auch die politische Klasse und die Medien, und so erfuhr die Öffentlichkeit von ihrem Wunsch nach einem ausgeglichenen Haushalt und gleich auch noch, wo sie denn die Einschnitte in das soziale Netz gern sehen würde - oder eben nicht, wie die Umfragen belegten. Kein Wunder, daß das Thema sich in dem Augenblick verflüchtigte, da man dem "mächtigen Tier" in die Augen schauen mußte.

Erwartungsgemäß wird das angestrebte Programm auf die übliche zweigleisige Weise umgesetzt. Brutale soziale Schnitte stehen neben erhöhten Militärausgaben; beides ist zwar im Volk unpopulär, doch sehr im Sinne der Wirtschaft. Warum gewisse Ausgaben erhöht werden müssen, ist leicht einzusehen, wenn man sich vor Augen führt, welche Rolle das Pentagon im Inland spielt. Es pumpt öffentliche Mittel in die höchstentwickelten Industriezweige und verschafft beispielsweise Newt Gingrichs betuchten Wählern höhere Staatshilfen als jedem anderen Wahlkreis; so werden sie gegen die Unbill des Marktes abgeschirmt, während der Anführer der konservativen Revolution gegen den "Regierungsmoloch" wettert und den gesunden Individualismus predigt.

Zwar war aufgrund der Umfragen von Anbeginn klar, daß die Mär vom konservativen Erdrutsch nichts mit der Wahrheit zu tun hatte. Doch erst jetzt wird dies stillschweigend zugegeben. Wenn etwa der Meinungsforscher der Gingrich-Republikaner behauptet hatte, eine Mehrheit unterstütze den "Amerikanischen Vertrag", dann hatten die Leute in Wirklichkeit den "Verpackungsslogans" (dies seine Worte) zugestimmt. Er habe beispielsweise festgestellt, daß die Menschen einerseits gegen eine Demontage der Gesundheitsfürsorge, andererseits dafür sind, diese "für die kommende Generation zu bewahren". Also habe man die Demontage als "Lösung zur Bewahrung" der Gesundheitsversorgung für die kommende Generation verpackt. Und so ist man überall vorgegangen.

So etwas liegt einfach in der Natur einer von der Wirtschaft gesteuerten Gesellschaft, in der wahnsinnige Summen für Marketing ausgegeben werden. Pro Jahr sind es 1 Billion Dollar oder ein Sechstel des Bruttoinlandsprodukts, noch dazu steuerabzugsfähig - die Menschen dürfen also für das Privileg, im Denken und Handeln manipuliert zu werden, auch noch bezahlen.

Und doch ist das mächtige Tier schwer zu zähmen. Schon oft hat man geglaubt, das Problem sei gelöst und das "Ende der Geschichte" - das Utopia der Herrschenden - sei erreicht. Klassisches Beispiel dafür war die Entstehung der "neoliberalen" Lehre Anfang des 19.Jahrhunderts. Damals verkündeten Ricardo, Malthus und andere Klassiker der Ökonomie mit wissenschaftlicher, geradezu Newtonscher Stringenz, daß, wer den Armen hilft, ihnen nur schadet; den besten Dienst würde man der leidenden Menge erweisen, indem man sie von der Illusion befreit, sie habe überhaupt ein Lebensrecht. Das einzige Recht, das diese neue Wissenschaft den Menschen gewähre, sei die Freiheit des unregulierten Arbeitsmarkts. Um 1830 schien sich diese Lehre in England durchgesetzt zu haben. Nachdem das richtige Denken im Interesse der britischen Industrie und Finanzwelt triumphiert hatte, wurden die Menschen in England "auf den Weg in ein experimentelles Utopia gezwungen". So Karl Polanyi in seinem klassischen Werk. Er nennt dies "die rücksichtsloseste Gesellschaftsreform", die die Geschichte je gesehen hat, und sie habe "das Leben Unzähliger zerstört". Ganz unerwartet stellte sich aber ein Problem. Die dumpfe Masse zog den logischen Schluß: Wenn wir kein Lebensrecht haben, dann habt ihr auch kein Recht auf Herrschaft. Es gab Aufstände, Unruhen aller Art, man mußte Truppen einsetzen. Doch die Bedrohung wuchs noch stärker an, denn die Arbeiter organisierten sich, forderten zum Schutz gegen das brutale neoliberale Experiment Regelungen für die Industriebetriebe und eine Sozialgesetzgebung, ja erhoben noch weitergehende Forderungen. Glücklicherweise ist die Wissenschaft allemal flexibel genug, der Elite einen Meinungsumschwung zu gestatten. Da die Energie der Massen unbeherrschbar wurde, entdeckte man die Notwendigkeit, zur Bewahrung des "Lebensrechts" eine Art Gesellschaftsvertrag abzuschließen.

Als das Jahrhundert seinen Fortgang nahm, hielt man die Ordnung für wiederhergestellt. Allerdings gab es einige Abweichler. So outete sich der berühmte Künstler William Morris bei einem Vortrag in Oxford als Sozialist und sorgte dadurch für Empörung in den besseren Kreisen. Seiner Überzeugung nach konnte "dem allgemein akzeptierten Konkurrenzprinzip des ´Den Letzten beißen die Hunde´ kein weiteres Wirtschaftssystem mehr nachfolgen. Es ist in sich vollkommen und daher ein Endzustand." Mit diesem Ende der Geschichte würde auch "die Zivilisation sterben." Er jedoch weigere sich, dies zu akzeptieren, mochten "die Weisesten aller Gelehrten" auch noch so überzeugt davon sein. Er behielt am Ende recht, denn das Volk kämpfte weiter.

Auch in den USA bejubelte man vor 100 Jahren die "Fröhlichen Neuziger" als "Vollendung" und "Endzustand". Und als die "Wilden Zwanziger" gekommen waren, galt die Arbeiterbewegung als ein für alle mal erledigt und die Herrschaftsutopie als gesichert - wozu allerdings der Yale-Historiker David Montgomery anmerkte, es handele sich dabei um ein "höchst undemokratisches, gegen den Protest seiner Arbeiter geschaffenes Amerika." Doch auch dieses Siegesfest erwies sich als verfrüht. Nur wenige Jahre, und das mächtige Tier war abermals seinem Käfig entkommen. Am Ende sahen sich sogar die USA, jene exemplarische Wirtschaftsgesellschaft, angesichts des Drucks aus dem Volk zu Zugeständnissen gezwungen, die in weit autokratischeren Staaten längst abgehakt waren.

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs startete die Wirtschaft eine gewaltige Propagandakampagne, um das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Ende der fünfziger Jahre schien dieser Kampf gewonnen. Für den Harvard-Soziologen Daniel Bell hatten wir "das Ende der Ideologie" herbeigeführt. Derselbe Bell hatte nur wenige Jahre zuvor als Redakteur der führenden Wirtschaftszeitschrift Fortune von der "erschreckenden" Intensität berichtet, mit der die Propagandafeldzüge der Industrie die in die Nachkriegszeit überlieferten sozialdemokratischen Ideen auszulöschen gedachten.

Indes, auch hier hatte man sich zu früh gefreut. Wie die Ereignisse der 60er Jahre zeigten, streifte das mächtige Tier immer noch frei umher und machte den "verantwortungsbewußt Denkenden" Angst vor der Demokratie. Als 1973 die "Trilateral Commission" von David Rockefeller gegründet wurde, befaßte sie sich als allererstes mit der "Demokratiekrise", zu der in den westlichen Ländern das Drängen weiter Bevölkerungskreise nach politischer Anerkennung geführt hatte. Denn nur ein Naivling konnte darin einen Schritt in Richtung auf mehr Demokratie erblicken; für die Kommission war es vielmehr "Demokratie im Übermaß". Lieber wollte man zu den Tagen zurückkehren, da - mit den Worten des US-Berichterstatters - "Truman das Land im Verein mit einer kleinen Gruppe von Wall-Street-Anwälten und Bankern regieren konnte." So sah die "Demokratie im rechten Maß" aus. Besonders beunruhigt war die Kommission über das Versagen derjenigen Institutionen, die "für die Indoktrinierung der Jugend verantwortlich" seien - also der Schulen und Hochschulen sowie der Kirchen. Man machte Vorschläge zur Wiederherstellung der Disziplin. Passivität und Gehorsam sollten wieder herrschen und zur Überwindung der Demokratiekrise beitragen.

Nun vertritt aber diese Kommission eigentlich die eher progressiven, internationalistisch gesinnten Macht- und Geisteszirkel in Europa, den USA und Japan; so wurde nahezu die gesamte Führungsschicht der Carter-Regierung von ihr gestellt. Der rechte Flügel nimmt weitaus härtere Positionen ein.

In dem Maße, wie sich die Weltwirtschaft seit den 70er Jahren verändert hat, wuchsen den Herren immer neue Waffen gegen das zu, was sie so haßten - den Gesellschaftsvertrag, den die Massen für sich erkämpft hatten. In den USA verengte sich das schon vorher äußerst schmale politische Spektrum fast auf Null. Bereits wenige Monate nach Bill Clintons Amtsübernahme konnte das Wall Street Journal in seinem Aufmacher befriedigt melden: "In praktisch jeder Frage treffen Clinton und seine Leute ihre Entscheidungen im Sinne der amerikanischen Wirtschaft." Von den Konzernmanagern wurde das bejubelt: "Mit der neuen Regierung kommen wir viel besser zurecht als mit der alten," freute sich einer von ihnen.

Ein Jahr darauf meinte die Wirtschaft, sogar noch mehr erreichen zu können. Im September 1995 schließlich berichtete Business Week über den neu gewählten Kongreß, dieser stelle "einen Meilenstein für die Wirtschaft dar. Nie zuvor wurde über die amerikanischen Unternehmer ein derartiges Füllhorn ausgeschüttet." Und bei den Wahlen des Jahres 1996 waren beide Kandidaten gemäßigte Republikaner, die sich in den Regierungsgeschäften auskannten -für die Wirtschaft also Wunschkandidaten. Der eigentliche Wahlkampf war denn auch in den Augen der Wirtschaftspresse "so langweilig wie noch nie." Obgleich die Kosten alle Rekorde brachen, sank Umfragen zufolge das Publikumsinteresse noch unter die bislang schon niedrigen Werte. Weder fanden die Wähler die Kandidaten sympathisch noch erwarteten sie viel von ihnen.

Weithin herrscht Unzufriedenheit mit unserem demokratischen System. Wenn man aus Lateinamerika Ähnliches vernimmt, dann teilweise aus denselben Gründen trotz aller Unterschiede. So weist etwa der argentinische Politikwissenschaftler Atilio Boron darauf hin, daß die Demokratie in Lateinamerika zusammen mit denselben neoliberalen Wirtschaftsreformen eingeführt wurde, welche die Mehrheit der Bevölkerung ins Unglück stürzten. Im reichsten Land der Welt führten dieselben Methoden zu den gleichen Auswirkungen. Wenn aber mehr als 80% der Menschen in der Demokratie nur eine leere Fassade sehen und die Wirtschaft für "ihrer Natur nach unfair" halten, kann es mit der "Zustimmung der Regierten" nicht weit her sein."

Seit 15 Jahren," so die Wirtschaftspresse, "besitzt die Kapitalseite eine klare Vorherrschaft über die Arbeitnehmerseite." Entsprechend zahlreich sind ihre Siege. Leider könnten die schönen Tage bald gezählt sein, führen doch die Arbeiter einen immer heftigeren "aggressiven Kampf um den sogenannten ´existenzsichernden Lohn´ und um einen größeren Aneil am Kuchen."

Erinnern wir uns: all das hat schon mehrfach gegeben. Wie oft hat man nicht schon das "Ende der Geschichte" begrüßt, wie oft die "Vollendung" oder den "Endzustand" - und sich doch jedesmal darin getäuscht. Mag auch vieles mies sein und bleiben, so erblickt doch ein Optimist, ja selbst ein Realist immer noch einen, wenn auch zähen, Fortschritt. Wenn das Volk heute für seine Sache kämpft, so steht es - vor allem in den entwickelten Industrieländern - besser da und kann mehr erhoffen als seinerzeit in den Fröhlichen Neunzigern oder den Wilden Zwanzigern, ja selbst als noch vor 30 Jahren. Die große Mehrheit der Menschen erkennt, daß ihre Interessen identisch sind und am besten durch Zusammenarbeit zu fördern sind, und so entwickelt die internationale Solidarität neue, konstruktive Formen. Wie eh und je gibt es keinen Grund zu der Annahme, unsere Gesellschaft unterläge irgendwelchen geheimnisvoll verborgenen Bestimmungsgesetzen. Nein, wir haben es nur mit Entscheidungen zu tun, die in unter menschlicher Führung stehenden Institutionen getroffen werden. Solche von Menschen betriebenen Institutionen aber haben eine Legitimitätsprüfung zu bestehen. Gelingt ihnen das nicht, dann lassen sie sich durch andere, freiere, gerechtere Gebilde ersetzen - Beispiele dafür finden sich in der Geschichte in großer Zahl.

Übersetzt von Helmut Richter

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