Wildcat 9/16/99
Indonesien/Ost Timor: der nächste "Brandherd"
"Irgendwelche Menschenrechtsverletzungen wurden durch die NATO nicht verhindert...
Sie haben das türkische Folterregime durch Waffenlieferungen bei den
Verbrechen gegen die Bevölkerung in Kurdistan unterstützt. Genauso
wie sie das indonesische Regime, das in Ost-Timor Zigtausende von Menschen
abschlachtete, mit Waffen beliefert haben. In diesen und anderen Fällen
haben sie auf die Menschenrechte geschissen."(1) - es sei denn, sie passen
ihnen grade in den Kram. Denn es scheint, als ob die zur Zeit sehr kritische
Lage in Ost Timor schnell zum "humanitären" Vorwand werden kann, um
eine für das Weltkapital unhaltbare Situation in Indonesien in den
Griff zu kriegen. Eine aus VertreterInnen aller Parteien bestehende Delegation
des Bundestags warnte vor dem Brandherd Ost Timor und forderte einmütig
ebenso wie die Ost-Timor-Solidaritätsbewegung(2) und die Vertreter
der nationalen Befreiungsbewegung in Ost Timor in den letzten Wochen die
Entsendung einer (bewaffneten) "internationalen Friedenstruppe".
Ost Timor: eine lange vergessene Tragödie
Ost Timor war eine Kolonie Portugals und wurde - nach der "Nelkenrevolution"
von 1974 ziemlich überraschend in die Unabhängigkeit entlassen.
Nach kurzer Zeit kam es, unter anderem durch Intrigen Indonesiens vorbereitet,
zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der UDT und der Fretilin, zwei
Parteien, die sich beide für die Unabhängigkeit ausgesprochen
hatten. 1975 marschierte die indonesische Armee ein und 1976 wurde Ost
Timor formell annektiert; ein Schritt, der von der UN nie anerkannt wurde.
Ost Timor steht seitdem auf der Liste der "Territorien ohne eigene Regierung",
Portugal wird als diplomatischer Repräsentant Ost Timors angesehen.
200 000 Menschen sind an den Folgen der Invasion Indonesiens umgekommen:
umgebracht, verhungert, an harmlosen Krankheiten verreckt - und das bei
einer damaligen Bevölkerungszahl von etwa 800 000. Ost Timor war schon
immer ein armes Land, Portugal hatte kein großes Engagement bei seiner
"Entwicklung" gezeigt. So gab es 1975 zum Beispiel in Ost Timor grade mal
20km asphaltierte Straße(3). Die Landwirtschaft war weitgehend Subsistenzwirtschaft,
was während der ersten Phase des Kampfes gegen die indonesische Armee
schnell zur Hungerfalle für die Bevölkerung wurde. Mit dem Zerstören
von Wäldern, Raub von Vieh und massenhafter Vertreibung wurde innerhalb
kurzer Zeit eine erste Welle von Proletarisierung gewaltsam durchgesetzt.
Trotz vieler staatlicher Maßnahmen etwa auf der Ebene der Infrastruktur
ist Ost Timor immer noch wenig industrialisiert. Immer wieder kam es zu
Übergriffen durch die indonesische Armee bis hin zu regelrechten Massakern,
so wurden z.B. 1991 mehr als 200 Menschen während einer Trauerfeier
auf dem Friedhof von Dili erschossen.
Die Bevölkerung in Ost Timor ist mehrheitlich katholisch; das allerdings
erst seit der Zugehörigkeit zu Indonesien. Das liegt daran, daß
Indonesien eine Zugehörigkeit zu einer von fünf anerkannten Religionen
verlangt. Viele Menschen sind aus anderen Teilen Indonesiens zugewandert,
zum kleinen Teil im Rahmen von offiziellen Transmigrasi- Programmen, zum
größten Teil in der Folge davon oder spontan. Sie profitierten
dabei zum Teil von zuungunsten der Alteingesessenen veränderten Eigentumsrechte
auf dem Land und vom aufgeblähten Öffentlichen Dienst. Niemand
weiß genau wieviele das insgesamt sind, es gibt Schätzungen
bis zu 200 000(4), also mehr als 20% der Bevölkerung. Während
die Migranten aus Sulawesi und Java Moslems sind und auch aus einer anderen
Kulturgeschichte schöpfen, unterscheiden sich die Leute aus Westtimor
kaum von den Osttimoresen, viele von ihnen sprechen sogar die einheimische
Hauptsprache Tetun. Allerdings können sie kein Portugiesisch und sprechen
im Durchschnitt besser Bahasa Indonesia. Zwischen Alteingesessenen und
Zuwanderern gab es immer wieder blutige Auseinandersetzungen, so flohen
z.B. im September 1995 1000 Leute aus Ost Timor, nachdem Märkte und
einige Moscheen niedergebrannt worden waren.
Die Invasion der indonesischen Armee in Ost Timor erfolgte einen Tag nach
einem Treffen Soehartos mit dem damaligen US-Präsident Ford(5). Und
zwanzig Jahre lang gab es zwar UN-Resolutionen zuhauf (bei denen sich die
USA regelmäßig der Stimme enthielten), aber in Wirklichkeit
kümmerte sich außer Portugal kein Schwein(estaat) um Ost-Timor.
Erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre änderte sich das langsam,
die Verleihung des Friedensnobelpreises an den Vertreter des Papstes in
Ost Timor und an Jose Ramos Horta (Mitbegründer der Fretilin und deren
Vertreter bei den UN) im Jahre 1996 war kein Zufall. Die Hauptgründe:
Indonesien war in dieser Zeit endgültig zu einem der aufstrebenden
Tigerstaaten Asiens geworden und gleichzeitig war das Ende der Ära
Soeharto abzusehen. Die Besetzung Ost Timors war so lange okay, als alles
im Griff einer starken Militärdiktatur schien; sie wurde neu entdeckt,
als offensichtlich wurde, daß eine Änderung der politischen
Verhältnisse im drittgrößten Land der Erde unausweichlich
war.
Der "Brandherd"
... heißt natürlich nicht Ost Timor, sondern Indonesien. Indonesien
ist nicht Jugoslawien, aber es gibt soviele Parallelen, daß schon
von daher eine ähnliche Entwicklung möglich scheint. Dies bestätigt
sich in der aktuellen Situation, die sich sowohl in Ost Timor, als auch
in ganz Indonesien zuspitzt. Indonesien ist ein Vielvölkerstaat, es
gibt keine ethnische Mehrheit. Indonesien ist inzwischen ein mehrheitlich
proletarisches, industrialisiertes Land; von der "Asienkrise" am schlimmsten
getroffen.(6) Während sich in Süd Korea erste Aufwärtstrends
bemerkbar machen, Thailand sich immerhin auf einer "schwarzen Null" hält,
gibt es in Indonesien noch keine Anzeichen für Besserung. Die Gründe
sind einfach: Zwar sind die Ausbeutungspotentiale in Indonesien riesig
(die Arbeiterlöhne dürften derzeit die niedrigsten der Welt sein),
das Investitionsrisiko ist es allerdings auch: zu sehr verweigert sich
die indonesische Gesellschaft und vor allem die Arbeiterklasse den Bedingungen,
die das Weltkapital fordert. Oder mit anderen Worten: die ArbeiterInnen
sind zwar billig, aber nicht willig genug. Es gibt trotz oder besser wegen
enorm hoher Arbeitslosigkeit und Armut (über die Hälfte der Bevölkerung
fällt unter die Weltbankdefinition von Armut) täglich Streiks,
Demonstrationen, Landbesetzungen und anderen Kämpfe. Und es gibt in
fast allen Landesteilen die anderen Seite der Verelendung: Akte proletarischer
Selbstzerfleischung entlang von Ethnien, Religionen, zwischen Alteingesessenen
und Zugewanderten, und manchmal für Außenstehende völlig
unverständlicher Mord- und Totschlag zwischen Einwohnern benachbarter
Dörfer. Die soziale und politische Situation Indonesiens ist explosiv
und kleine Explosionen gibt es jeden Tag.
Warum die Regierung Habibie praktisch von sich aus im August letzten Jahres
mit dem Vorschlag eines Autonomiestatuts für Ost Timor vorgeprescht
ist, läßt sich nur erahnen. Es gab im Rahmen der Studentenbewegung
Anfang letzten Jahres auch einen Aufschwung einer entsprechenden Bewegung
in Ost Timor mit einem Höhepunkt im Juni und Juli, was unter anderem
zur Flucht von zigtausenden Zuwanderern aus Ost Timor führte. Wahrscheinlich
spielte bei Habibies Entscheidung aber die Hauptrolle, daß er innenpolitisch
schwach und erfolglos operierte und einen außenpolitischen Befreiungsschlag
versuchte. Denkbar ist auch, daß er sich einfach einen Unruheherd,
noch dazu einen wirtschaftlich uninteressanten, vom Hals schaffen wollte.
Es gibt auch im Aceh (Nordsumatra) und in Irian Jaya (Westpapua) Befreiungsbewegungen
und wieder aufflammende blutige Auseinandersetzungen mit dem Militär.
Aber beide Regionen sind reich an Öl (Aceh) oder anderen Bodenschätzen
und haben ein großes Steueraufkommen.
Das Angebot von Autonomie im Rahmen des indonesischen Staates allerdings
läßt die Bewegung in Ost Timor nicht abschwellen. Ab Januar
99 wird mit der UN und Portugal verhandelt während sich gleichzeitig
Pro- indonesische Milizen - z.T. ausgerüstet und wohlwollend geduldet
durch das Militär oder Militärkreise - daran machen, Angst und
Schrecken zu verbreiten. Sie überfallen Dörfer, greifen Plätze
an, wohin die Leute geflüchtet sind, darunter auch Kirchen. Sie paradieren
bewaffnet durch Dili, unbehelligt durch Polizei oder Militär. Sie
markieren Häuser von Aktivisten der Unabhängkeitsbewegung und
verbreiten Flugblätter mit Todesdrohungen. Insgesamt sind in diesem
Jahr mehr als hundert Menschen von diesen Milizen ermordet worden.
Am 5. Mai wurden gleichzeitig ein Abkommen mit Portugal und den UN über
ein Autonomiestatut und ein Abkommen über die Vorbereitung und Durchführung
einer "Befragung" der Ost Timoresen durch die UN (praktisch ein Referendum;
Termin 7. oder 8. August) über die von ihnen gewünschte Zukunft
(Autonomie in Indonesien oder Unabhängigkeit) geschlossen. Während
Teile der Bevölkerung in Ost Timor terrorisiert werden, mutieren die
Führer der "Befreiungs"organisationen angesichts ihrer enormen Aufwertung
durch die Verhandlungen zu Staatsmännern. So verbietet der Chef der
Falintil (bewaffneter Arm der Fretilin) und Vorsitzende des CNRT (Conselho
National de Resistancia Timorese), Xanana Gusmao, vom Knast in Jakarta
aus den Studenten in Dili, eine Demonstration gegen den Terror der Milizen
zu organisieren: "Wir müssen alles zu diesem Prozeß [die Vorbereitung
der Befragung im August, Red.] beitragen, der Orientierung des UN-Teams
folgend. Zu diesem Zweck wiederhole ich meinen Appell, ruhig zu bleiben.
Ich wiederhole meinen Appell an die Jugend von Dili, Befehle zu befolgen
und verlange, daß sie verantwortlich und mit Disziplin handelt."(7)
Statt auf die Aktionen der "Jugend von Dili" setzen er und die anderen
Chefs auf die Zukunft als Staat und fordern die Entsendung einer bewaffneten
Friedenstruppe nach Ost Timor. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück,
unverhüllt den Einmarsch der NATO zu fordern. Jose Ramos Horta in
einem Interview mit der Gazette, einer Provinzzeitung in Iowa: "Die NATO-
Intervention [in Jugoslawien] ist die erste seit 50 Jahren, für die
aus rein humanitären Gründen argumentiert werden kann", und die
Gazette weiter: "Ramos-Horta sagt weiter, er wünschte, daß die
USA oder andere NATO-Mitglieder seinem Vaterland von etwa 800 000 Menschen
die gleiche Art von Hilfe geben würden wie dem Kosovo."(8) Und der
Premierminister von Portugal, Antonio Guiterres, antwortet: Portugals Teilnahme
an den NATO-Aktionen in Bosnien und Jugoslawien gäben dem Land die
"moralische Autorität", die Intervention der UN in Ost Timor zu fordern.(9)
Die UN will einige hundert unbewaffnete Polizisten schicken, die die indonesischen
Sicherheitskräfte bei der Vorbereitung des Referendums und der Aufrechterhaltung
der Sicherheit beraten und unterstützen sollen. Dies ist natürlich
eine - wahrscheinlich bewußt - riskante Angelegenheit. Jeder der
interessiert ist, kann Anschläge auf unbewaffnete Gruppen durchführen
und Interessierte gibt's genug. Von den pro-indonesischen Milizen, die
das Referendum verhindern wollen bis hin zu Kreisen im Militär, denen
eine bewaffnete Auseinandersetzung Indonesiens mit "Aggressoren von außen"
gerade recht käme, um beispielsweise einen Militärputsch durchzuziehen
und im Land Kriegsrecht durchzusetzen.
Weitgehend ungeklärt ist die Rolle, bzw das Schicksal der Migranten
in Ost Timor. Während im Abkommen über das Autonomiestatut jedeR
zum Ost Timoresen erklärt wird, der/die vor 75 dort gelebt hat oder
bei Inkrafttreten seit 5 Jahren dort lebt, ist es im Abkommen über
das Referendum nur noch der/diejenige, der/die dort geboren ist oder Eltern
oder Großeltern oder einen Ehepartner hat, der dort geboren ist.
Das ist also schon eine weitgehend ethnische Definition, die die Exiltimoresen
ein-, aber viele MigrantInnen ausschließt. So legt man ethnische
Säuberungen an. Weiterhin müßten diese Verträge für
ihre völkerrechtliche Gültigkeit noch im indonesischen Parlament
beschlossen werden - was praktisch nur im Nachhinein geschehen kann, weil
das neue Parlament erst im August zusammentreten wird (gesetzt den Fall,
daß die Wahlen einigermaßen erfolgreich über die Bühne
gehen, was bei der Niederschrift dieses Artikels, eine Woche vor den Wahlen,
noch lange nicht sicher ist). So gut wie alle Parteien, einschließlich
Megawatis PDI Perjuangan, sind aber im Moment noch gegen eine Unabhängigkeit
Ost Timors. Und schließlich gibt es den möglicherweise größten
Anlaß für Krieg in einem Abkommen zwischen Australien und Indonesien
über die Ausbeutung eines neuentdeckten riesigen Ölfeldes zwischen
Ost Timor und Australien, das unter Portugals Protest geschlossen wurde.
Australien hat jedenfalls vorsorglich eine neue schnelle Eingreiftruppe
aufgebaut, die in Darwin stationiert werden soll.
Nieder mit den humanitären Kriegstreibern !
Früher
waren Kriege gerecht, heute sind sie humanitär - das heißt jeder
beliebige Anlaß kann zur Rechtfertigung hingebogen werden. Die Situation
in Indonesien liefert Rechtfertigungen en masse. Aber hinzu kommt, daß
es diesmal gar kein Zögern bei den radikalen Staatshumanisten mehr
gibt. Von der Indonesien/Osttimorsolidaritätsbewegung über die
zu Staatsmännern geläuterten Rebellenführern vor Ort bis
zur PDS - diesmal fordern sie alle den Krieg. Niemand kann sich heute mehr
rausreden - wer jetzt "bewaffnete Friedenstruppen" von den USA, der Deutschen
Bundesregierung oder von wem auch immer fordert, der fordert die Vorbereitung
und Durchführung eines Krieges gegen Indonesien, der zusammen mit
den reaktionären Kräften in Indonesien gegen die Arbeiterklasse
geführt werden wird. Ob das Weltkapital und seine bewaffnete Truppe
dieser Forderung nachgibt - das ist heute gewiß noch Spekulation.
Aber wenn sich die Balkankrise mit Bomben lösen läßt, warum
nicht auch die Asienkrise?
Karl Eugen, 31. Mai 1999 (aus: Wildcat Zirkular 50) |