Gegen-Informations-Büro

Herausforderung Krieg

Statt eines Vorwortes

»Die Herrschaft modernisiert sich auf allen Ebenen: Der Kapitalismus startet durch und betreibt ein Rollback sozialer Absicherungen, das Patriarchat propagiert den Backlash, Nationalismus und Rassismus scheinen ebenso wie Militäreinsätze der "Weltmacht Deutschland" von der Bevölkerungsmehrheit als neue "Normalität" akzeptiert zu werden.«

Das schrieb der HerausgeberInnenkreis der Zeitung Graswurzelrevolution im Jahre 1997 als Ausgangssituation für eine Betrachtung libertärer Theorie und Perspektiven zur Jahrhundertwende, zu der unter dem Titel »Anarchistischer Herbst« vom 10.–12. Oktober 1997 ein Kongreß durchgeführt wurde. Rund 250 TeilnehmerInnen aus gewaltfreien und anarchistischen Gruppen sowie LeserInnen der Zeitung Graswurzelrevolution trafen sich drei Tage in der Alten Feuerwache Köln, um anläßlich des 25-jährigen Bestehens der Graswurzelrevolution die Herausforderungen zu diskutieren, denen sich der Anarchismus und insbesondere der gewaltfreie Anarchismus am Ende des 20. Jahrhunderts stellen muß. Um möglichst weitgehende, auch transnationale Anregungen zum Thema zu finden, wurden internationale Gäste eingeladen, die am letzten Tag des Kongresses ihre Perspektiven darlegten. Die Texte dieses Buches sind überarbeitete Diskussionsbeiträge dieses Kongresses. Die Grobgliederung des Buches erinnert zwar noch an die Struktur des Kongresses, hat aber allgemeineren Charakter: im ersten Teil ist eine erweiterte Fassung des Einführungsreferates für den Kongreß zu finden, den zweiten Teil des Buches bestreiten Beiträge einzelner AutorInnen, die in Vor- und Nachbereitung oder aus den Diskussionen einzelner Arbeitsgruppen des Kongresses entstanden sind, und den dritten Teil schließlich bestimmt die Zusammenstellung der internationalen Beiträge. Dieser dritte Teil wird eröffnet mit einer Erinnerung an den 1998 gestorbenen Altanarchisten Heinrich Friedetzky, der auf dem Kongreß ein Grußwort sprach. Dadurch soll die durch ihn verkörperte anarchistische Bewegung der zwanziger Jahre mit derjenigen am Ende des Jahrhunderts symbolisch verbunden werden. Nahezu alle Beiträge für dieses Buch sind kurz vor einem einschneidenden Ereignis fertiggestellt worden: dem Krieg der NATO und der BRD gegen Jugoslawien. Es ist allerdings kaum möglich, über anarchistische Perspektiven für das 21. Jahrhundert nachzudenken, ohne die neue Führbarkeit eines Krieges im letzten Jahr des alten Jahrhunderts zu reflektieren. Anstelle eines ausführlichen Vorworts zu den vorliegenden Beiträgen des Buches soll dies an dieser Stelle versucht werden.

Der Krieg gegen Jugoslawien: ein historischer Einschnitt

Für gewaltfreie AnarchistInnen stellt dieser Krieg einen historischen Einschnitt in vielerlei Hinsicht, vor allem jedoch in seiner innenpolitischen Bedeutung dar: zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, seit der Niederschlagung des Nationalsozialismus und seiner Armee, der Wehrmacht, hat sich deutsches Militär aktiv an einem Krieg gegen ein anderes Land beteiligt, mit dem angegriffenen Serbien sogar erneut einen Feind definiert, der bereits zweimal im abgelaufenen Jahrhundert Ziel deutscher Angriffe war. Die Herausforderung Krieg – und direkt damit verbunden Vertreibung, Menschenrechtsverletzungen – ist die größte Herausforderung, der sich die anarchistische Bewegung im ausgehenden Jahrhundert gegenübersieht.

Und dies vorneweg: es reicht nicht und ist zudem zu bequem, während eines Krieges oder danach über verpaßte Prävention und vertane Chancen sogenannter »Konfliktlösungen« im Vorfeld zu lamentieren, wie dies einige pazifistische Projekte oder WissenschaftlerInnen aus der Friedens- und Konfliktforschung getan haben. Weder können auf diese Weise Kriege verhindert werden noch wird damit in der Regel eine libertäre Kritik solcher politikberaterischen Konzepte verbunden. So sind im Kriegsfall diejenigen fein raus, die im Vorfeld der Kriege ihre Kräfte den Herrschenden andienten, anstatt den Aufbau einer antimilitaristischen Bewegung voranzubringen. Von staatlicher Subvention abhängige Konzepte wie etwa der »zivile Friedensdienst« werden aber entweder in die Militärstrategie integriert oder in irgendwelchen Ausschüssen geparkt, bis sie obsolet werden. Es ist schlichtweg zu billig, sich dann im Kriegsfalle hinzustellen und zu sagen, die Alternativkonzepte hätten vorgelegen, sie seien nur nicht verwirklicht worden. Daß und warum sie nicht verwirklicht werden wollten, gehört zu den interessegeleiteten Ursachen des Krieges, denen die professionalisierten InteressevertreterInnen friedenspolitischer Konzepte allzuoft zu naiv gegenüberstehen. Ohne den Aufbau einer breiten radikalpazifistischen und antimilitaristischen Bewegung durch die kriegsgegnerischen Kräfte selber kann hier gar nichts bewirkt werden.

Protest und Widerstand gegen den Krieg, radikaler Antimilitarismus und Anarchismus, auch ein aktivistischer Pazifismus sind aber historisch noch immer eher Ausnahemerscheinungen. Gesellschaftliche Stimmungen gegen den Krieg, gar kulturelle Hegemonien des Pazifismus wie in den achtziger Jahren müssen über lange Phasen hinweg erkämpft werden und lassen sich nicht über Appelle und Finanzanträge erreichen.

Gegen Unrecht oder vermeintliches Unrecht oder für eigene Interessen Gewalt einzusetzen gilt heute eher wieder als Regel und erscheint den meisten Menschen als legitim. Im allgemeinen Bewußtsein wird der Krieg als gerechte Alternative zu Krieg und Menschenrechtsverletzungen empfunden, so wie der Krieg gegen die Nazis als Ende der Lager und Beginn der Demokratie interpretiert wird. Das war im Jugoslawien-Krieg eine zentrale Rechtfertigungsideologie der Herrschenden. Vergessen oder noch gar nichts ins öffentliche Bewußtsein vorgedrungen ist, daß der Krieg und seine Dynamik zu einer Brutalisierung, Intensivierung und Modernisierung führten, durch die das System Auschwitz überhaupt erst möglich geworden ist.1 Kaum bekannt ist, daß die Logik des Krieges im Gegensatz zur Logik des zivilen Widerstandes nicht auf die Rettung jüdischer Menschen oder auf die Bombardierung der Gleise nach Auschwitz abzielte2, sondern auf eine weltweite Neuordnung staatlicher Herrschaftsbereiche. Schließlich wird noch immer zu wenig über die Tatsache reflektiert, daß der Befehl Hitlers zur Vernichtung der Juden/Jüdinnen erst spät nach dem Angriff auf die Sowjetunion erteilt wurde und zu dieser Zeit die militärische Niederlage bereits absehbar war.3 Mit diesen Relativierungen soll nicht die Legitimität des historischen antinazistischen Krieges in Zweifel gezogen, sondern nur der Kurzschluß hinterfragt werden, auf neuerlichen Nazismus oder Vorstufen einer Vernichtungspolitik wie Vertreibung usw. könne gar nicht anders als militärisch reagiert werden. Vor dem Hintergrund des aktuellen Standes dieser geschichtspolitischen Diskussion sind Phänomene wie während des zweiten Golfkrieges 1991 keineswegs Selbstverständlichkeiten, als eine kriegsgegnerische Bewegung spontan massenhafte Ausmaße annahm und im Ergebnis zumindest dafür sorgte, daß die BRD-Regierung und die Bundeswehr die neunziger Jahre damit verbringen mußten, die eigene Militärbeteiligung an solchen Kriegen der NATO minutiös mittels Werbekampagnen, Oderdammbrucheinsätzen und einer ausgefeilten »Salami-Taktik« langsam und Stück für Stück durchzusetzen. 1999 waren diese Vorsichtsmaßnahmen gegen potentielle soziale Antikriegsströmungen im Innern des Landes jedoch abgeschlossen. Den Herrschenden schien die Zeit reif, erstmals mit Bundeswehreinheiten aktiv Krieg zu führen konnten. Der Bürgerkrieg im Kosovo seit 1998, der NATO-Luftangriff, die Offensive der jugoslawischen Armee und die Vertreibung von rund 780.000 Kosovo-AlbanerInnen, das Militärabkommen Mitte Juni und die Besetzung durch NATO-Truppen, die Rache- und Vergeltungsaktionen der zurückkehrenden Kosovo-AlbanerInnen und ihrer Guerilla UÇK, die Flucht der serbischen Minderheit und der Roma aus dem Kosovo – all diese Kriegshandlungen und -folgen spielten sich im wesentlichen ab, ohne daß sich innerhalb der BRD eine ernstzunehmende soziale Bewegung gegen den Krieg entwickelt hätte, worauf die existierenden gewaltfreien und/oder anarchistischen Gruppen hätten Einfluß nehmen können.

Defizite und Perspektiven von Antikriegsstrategien in den Metropolen

Es waren dabei nicht so sehr die praktischen Aktionsansätze gegen den Krieg, die den radikal-antimilitaristischen Gruppen und den Graswurzelgruppen fehlten. Potentiell wären sie vorhanden gewesen: weniger den postmodernen Bedingungen westlicher Kriegsführung angemessen waren dabei eher traditionelle Aufrufe zur Desertion, praktiziert wurden darüber hinaus aber auch Blockaden und direkte gewaltfreie Aktionen gegen die militärische Infrastruktur der kriegführenden Armeen, soweit sie direkt von der BRD aus mit der Kriegsführung zusammenhingen.

Aufrufe zur Desertion erreichen immer weniger diejenigen Teile postmoderner Armeen, die tatsächlich den Krieg führen – jene Berufssoldaten nämlich, die geschützt vor eigener Verletzung oder Tod in unerreichbarer Höhe für den Kriegsgegner ihre Bomben abwerfen. Nur deren Beeinflussung in den diversen NATO-Armeen durch Desertionsaufrufe hätte unmittelbare Einwirkung auf das Kriegsgeschehen versprochen. Noch beim zweiten Golfkrieg waren Desertionsaufrufe keineswegs sinnlos, weil gleichzeitig eine riesige Interventionsstreitmacht zusammengezogen und auch direkt im Krieg eingesetzt wurde. Diese Soldaten waren zwar Berufssoldaten, aber keineswegs so spezialisiert und durch Technik vom Gegner getrennt, daß Gefühle wie Angst vor dem eigenen Tod kaum eine Rolle spielten. Viele US-Soldaten entzogen sich damals dem Krieg durch Abwesenheit vom Dienst (»Absence without leave«).

Diese Möglichkeit antimilitaristischer Agitation fehlte beim Krieg gegen Jugoslawien völlig. Vielleicht sind die Soldaten von industriell-metropolitanen Staaten von ihrer »humanitären« Mission sogar umso überzeugter, wenn auch noch frühere PazifistInnen oder ehemals selbsternannte »Revolutionäre« wie ein Außenminister Fischer den Krieg befürworten. Infolgedessen gingen Desertionsaufrufe in den Metropolenarmeen ins Leere oder hatten rein symbolischen Gehalt. Sie müssen für Strategien gegen die zukünftige Kriegsführung allgemein überdacht werden. Schließlich wird sich die Aufteilung der Bundeswehr in »Hauptverteidigungskräfte« und »Krisenreaktionskräfte« vertiefen, letztere werden sich spezialisieren und fast ausschließlich aus überzeugten Berufssoldaten zusammengesetzt werden, so daß sie immer weniger durch traditionelle Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung erreicht werden können.

Und weil das so ist, bekommen direkte gewaltfreie Aktionen von außen, die gegen die militärische Infrastruktur der kriegführenden Armeen – auch in deren Hinterland – gerichtet sind, zukünftig stärkere Bedeutung. Wo die innere Struktur so festgezurrt ist, daß sie kaum noch beeinflußbar ist, bleibt nur der soziale Angriff von außen: in dieser Hinsicht ließen sich Parallelen zur Situation der etablierten und bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung feststellen. Immer öfter greifen Gewerkschaften aufgrund fester Strukturen im Innern bei Arbeitskämpfen auf die Unterstützung von außen zurück. Als sich die Angestellten der Drogeriekette Schlecker soziale Mindeststandards erkämpften, wurde das Aktionsmittel VerbraucherInnenboykott von seiten der Gewerkschaft in die Arbeitskampfstrategie miteinbezogen. Das erwies sich vor allem deshalb als erfolgreich, weil am Beginn der Arbeitskämpfe die Schlecker-Belegschaft auf Druck der Betriebsleitung gewerkschaftlich völlig unorganisiert war. Der Einsatz von Boykottstrategien schält sich mindestens als Ergänzung, perspektivisch vielleicht sogar als Hauptterrain von zukünftigen Arbeitskämpfen heraus. Seit den antirassistischen BürgerInnenrechtskämpfen (Martin Luther King) haben solche Aktionskonzepte in den USA eine lange Tradition und sind weit verbreitet. Beim Kampf gegen den Ölkonzern Shell und die geplante Versenkung der Ölbohrinsel Brent Spar hat die potentielle Macht des Boykotts weltweit Aufmerksamkeit erregt. Auch für die Anti-AKW-Bewegung hat sich seit ihren Anfangszeiten gezeigt, daß der soziale Angriff von außen auf die Infrastruktur der Atomwirtschaft, von den Bauplatzbesetzungen bis zum Widerstand gegen Atomtransporte, gerade dann erfolgversprechend sein kann, wenn im Innenbereich der Atomanlagen, bei der Belegschaft, kaum oder überhaupt kein Widerstandsgeist vorhanden ist.4

Diese Erfahrungen in anderen sozialen Bewegungen vorausgesetzt, war es richtig von antimilitaristischen und gewaltfreien Aktionsgruppen, während des Krieges gegen Jugoslawien überregionale Blockaden gegen Abflugbasen der NATO-Bomber und zentrale Einrichtungen der Bundeswehr zu organisieren. Mit diesen Aktionen sollte nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß dieser Krieg auch direkt von der BRD aus geführt wird, sondern daß auch Eingriffsmöglichkeiten bestehen, mittels Blockaden oder weitergehenden Aktionen wie Go-Ins oder Sabotage direkt Einfluß auf die Kriegsführungsfähigkeit der NATO-Armeen, insbesondere der Bundeswehr zu nehmen. Mit dieser Intention organisierten die noch aktiven Reste gewaltfreier Aktionsgruppen überregionale Blockaden in Spangdalem bei Trier (von dieser US-Basis flogen Tarnkappenbomber nach Jugoslawien), in Brüggen bei Mönchengladbach (britische Tornado-Basis, ebenfalls direkte Bombereinsätze gegen Jugoslawien), gegen das Verteidigungsministerium in Bonn, gegen das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr in Calw (bei eventuellem Bodeneinsatz der Bundeswehr die erste Adresse) und gegen die US-Air-Base Frankfurt (wichtiger Transportflughafen, von dem aus nachts NATO-Tankflugzeuge zur Betankung der Bomber abflogen). Allein – im Gegensatz zu 1991 lief diese Aktionsperspektive völlig ins Leere. Die paar Hundert AktivistInnen aus dem engeren Bereich noch existierender gewaltfreier Aktionsgruppen waren kein Vergleich zum Beispiel zu den Massenblockaden im März 1997 im Wendland, als u.a. mit ca. 9.000 BlockiererInnen die Legitimations- und Polizeieinsatzkosten für Atomtransporte so hoch getrieben wurden, daß sie schließlich sogar ausgesetzt werden mußten. Weitaus wichtiger als die Frage, welche Aktionsstrategien denn gegen die neuen Formen der Kriegsführung angewandt werden könnten, wird also angesichts des Jugoslawien-Krieges die Frage, warum bei einem Krieg, bei dem die Bundeswehr erstmalig aktiv beteiligt war, keine relevante Antikriegsbewegung entstand, obwohl sogar der traditionelle Anti-NATO-Reflex der Friedensbewegung zum Teil noch funktioniert hat. Hier können äußere und bewegungsinterne Faktoren angeführt werden, die sich gegenseitig verstärkten und dahin ergänzten, daß sie alle zusammen die Menschen allenfalls in Diskussionsveranstaltungen mit unterschiedlichen Meinungen und ungewissem Ausgang und eben nicht auf die Straße trieben, wofür doch eine klare Meinungsbildung und Entschiedenheit Voraussetzung ist.

Gründe der Antikriegsabstinenz

Was die äußeren Faktoren anbetrifft, so kann – auch wenn die Formulierung abgedroschen klingt – zunächst einmal die fehlende Betroffenheit innerhalb der Bevölkerung eine Rolle spielen, die – so irreal sie auch war – zumindest am Anfang des zweiten Golfkrieges 1991 noch durchaus eine Rolle spielte. Damals war spekuliert worden, daß sich der Krieg gegen den Irak zu einem internationalen Bombenkrieg oder gar zu einem Dritten Weltkrieg ausweiten könnte. Die Gefahr bestand auch am Anfang des Krieges gegen Jugoslawien – ihre Wahrscheinlichkeit wurde jedoch weit geringer eingeschätzt als noch 1991.

Den Herrschenden ist es in den neunziger Jahren somit gelungen, trotz allgegenwärtiger Mittelstreckenraketen und Atomwaffenpotentiale (die im Jugoslawien-Krieg mittelbar durch die unklaren Reaktionen der Atommacht Rußland eine Rolle spielten) Kriege als regional führbar und begrenzbar darzustellen. Das beruhigt die Bevölkerung im eigenen Territorium und macht sie eher geneigt, den Kriegszielen wenn nicht zuzustimmen, so doch nicht aktiv gegen sie aufzubegehren. Diese von den Herrschenden erwünschte passive Zustimmung der Bevölkerung in den Industrienationen macht Betroffenheiten gegenüber den Greueln des Krieges steuerbar: während die herrschenden Medien etwa die Dimension des Völkermords in Ruanda/ Burundi oder auch des Krieges in Äthiopien/Eritrea erst im nachhinein dramatisierten oder überhaupt herunterspielten, während die zuweilen einseitig hochgespielte Empörung über islamistische Greuel in Algerien letztlich folgenlos blieb, konnten im früheren Jugoslawien über Jahre hinweg mittels Greueln und Massakern wie »Sarajevo«, »Srebrenica« usw. Betroffenheiten erzeugt, gesteuert und zudem sogenannte »friedliche Konfliktlösungen« als gescheitert dargestellt werden. Unmittelbar verschränkt mit der fehlenden oder für die Kriegszwecke steuerbaren Betroffenheit ist das Bedürfnis der Mehrheit der Bevölkerung in den Industriemetropolen, auch in Kriegszeiten einem konsumorientierten Alltagsleben nachgehen zu können, welches alle psychischen und materiellen Möglichkeiten der Verdrängung unangenehmer Realitäten zur Verfügung stellt, die die postmoderne kapitalistische Gesellschaft zu bieten hat. Im Gegensatz zu den großen Weltkriegen, die nicht zu Unrecht das ganze Jahrhundert hindurch »moderne« Kriege genannt wurden, ist heute, in »postmodernen« Zeiten, keineswegs mehr die ganze Gesellschaft einer Industrienation auf den Krieg ausgerichtet: nicht nur die Wehrpflicht ist nicht unbedingt zur Kriegsführung nötig, sondern es ist auch unnötig, das gesamte gesellschaftliche Leben auf den Krieg hin auszurichten. Nur ein kleiner segmentierter Bereich der Gesellschaft führt den Krieg, während die Mehrheit der Bevölkerung allenfalls in passiver Zustimmung verharren soll.

Insbesondere der jüngeren Generation erscheint die künstlich-kapitalistische Erlebniswelt, die ihnen die herrschende Gesellschaft vorgaukelt, wesentlich attraktiver als ein selbstgewählter Weg in eine Minderheitenposition, in der man/ frau gegen ein ganzes System des Krieges vorgehen muß. Im gesellschaftlichen Alltag zunehmender Deregulierung von Arbeits- und Existenzpositionen werden traditionelle Männlichkeitsmerkmale wiederaufgewertet: Manager und leitende Angestellte müssen nicht mehr, wie noch in den achtziger Jahren, auf sogenannte »weibliche Werte« wie Integrationsvermögen und den Ausgleich von Interessen bedacht sein, sondern es zählen wieder Rücksichtslosigkeit im Vorgehen, Draufgängertum, Mitleidlosigkeit. Auf der Seite der Erfolgreichen, der »Winner« zu stehen, wird belohnt. Männliche Wertkategorien des Ausspielens von Machtpositionen, Durchsetzungsfähigkeit in Konkurrenzpositionen, überhaupt Durchsetzung mit Mitteln der Gewalt werden kultiviert und lassen sich mühelos in den Imperativen des Krieges wiedererkennen. Mit diesen Tendenzen korrespondiert der "Backlash" (Gegenschlag) der Männer gegen Inhalte und Errungenschaften der Frauenbewegung und die Anpassung vieler Frauen an ihre wieder zugewiesene, traditionelle Rolle: der Kampf um die Selbstbestimmung der Frau (»Mein Bauch gehört mir !«) ist längst der freiwilligen Knechtschaft in einem Beratungssystem gewichen, das von männlichen Juristen, Ärzten und Kirchenvertretern beherrscht wird. Die familienorientierte, heterosexistische Sozialpolitik auch der rot-grünen Regierung subventioniert Kinderreichtum und die Rückkehr der Frau an Heim und Herd, vor allem unter den Bedingungen von Deregulierung und zunehmender Frauenarmut. In den oft sexistischen Songtexten und cool-machohaften Verhaltenskodexen subkultureller Szenen von Hiphop über Gangsta-Rap, Industrial, »Rammstein«-Heavy Metal, Gothic bis zu Techno, in Kinofilmen (von Heiner Lauterbach in Campus über Til Schweiger und die deutsche Komödie bis hin zu Schwarzenegger und den männlich-militaristischen "Sternenkriegen") kann ein kulturell-patriarchaler "Backlash" festgestellt werden. Die kritische Männerforschung konstatiert einen »konservativen Schwenk« bei Männergruppen und -initiativen seit Mitte der neunziger Jahre: wo früher antisexistische Ansätze dominierten, setze sich heute im Anschluß an die von Robert Bly inspirierten »Wilden Männer« eine »pro-maskuline« Richtung durch, die auf der Basis einer behaupteten biologischen Differenz zwischen Frauen und Männern gegen eine angebliche »Feminisierung«, gleichgesetzt mit Verweichlichung, der Männer durch die Frauenbewegung zu Felde zieht. Gefordert werden die Freilegung der »verschütteten männlichen Energien« und »Männerrechte« – in völliger Verkennung der Lage, wer gegenüber wem immer noch weitaus privilegierter ist.

Schuldzuweisungen werden von pro-maskulinen Männern verstärkt wieder an Frauen gegeben, bis in Therapieansätze hinein. Antisexistische und profeministische Männerforscher kritisieren, daß sich eine neue hegemoniale Männlichkeit (»Marketplace Masculinity«) durchgesetzt habe, deren dominante Attribute »Aggression« und »Konkurrenzkampf« seien 5 – Eigenschaften, die auch eine moderne metropolitane Kriegsführung braucht.

Die Hoffnungen, die viele Menschen jahrelang in einen Regierungswechsel gesteckt hatten, wurden durch die Kriegsbeteiligung der Rot-Grünen zwar enttäuscht, entscheidender war aber, daß mit der Wahlstimme immer auch ein Stück Urteilsfähigkeit und Verantwortlichkeit für’s Handeln an die Regierungsparteien weitergegeben wurde und dadurch die Bindung des Bewußtseins der rot-grünen WählerInnen an die Diskussionen ihrer Parteien sehr stark war. So lebten die Grünen ihren WählerInnen die ohnmachtsgebietende, selbstquälerische »Zerrissenheit« in ihrer Regierungsfunktion beispielhaft vor – und waren doch gleichzeitig TäterInnen.

Für das an Rot-Grün gebundene alternative Bewußtsein ihrer WählerInnen bedeutete das einen Blick in den Abgrund, sofern sie ihre Loyalität ans rot-grüne Milieu beendet hätten: auch biographisch wollen die Grün-WählerInnen nicht noch einmal völlig von vorn anfangen, als Minderheit ohne unmittelbare Perspektive gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und Relevanz.

Deshalb sind sie geneigt zu vergessen, daß mit der grünen Regierungsbeteiligung von den ursprünglichen Zielen nicht nur nichts erreicht worden ist, sondern sich die Ziele in ihr Gegenteil verkehrt haben und die Grünen mittlerweile selbst Teil des Problems, das heißt des Systems, geworden sind. Dieser psychische Mechanismus derjenigen, die mit den Grünen alt geworden sind, dieses »nicht noch einmal von Null anfangen wollen« (was ja auch gleichzeitig bedeutet, über Jahrzehnte hinweg alles falsch gemacht zu haben, wer gesteht sich das schon gerne ein ?) – das wirkt als psychische Barriere gegen jeglichen Gedanken an neuerlichen, beschwerlichen Protest und Widerstand.

So kam es ohne eine breite Antikriegsbewegung, ohne sozialen Resonanzboden für gewaltfreie und anarchistische Aktionsansätze dazu, daß die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) den Vertrauensbruch der Grünen nahezu unmittelbar nutzen konnte, obwohl doch mit der Kriegsbeteiligung der Grünen für Libertäre offensichtlich das beste Argument gegen parlamentarische Politik zum Tragen hätte kommen müssen. In einer Situation, in welcher die Gegenaktivitäten jedoch nicht von einer spontan entstandenen sozialen Bewegung ausgehen, sondern eher von bereits organisierten Gruppierungen geprägt werden, werden aber auch die ideologischen Debatten rigider geführt und prallen deutlicher als sonst aufeinander. Dies führte zu ungemein widersprüchlichen Außendarstellungen der verbliebenen Antikriegsinitiativen, die sich in der Frage, ob und wie gegen den Krieg protestierende serbische NationalistInnen integriert werden sollten, oder auch bei der Frage, ob und wie die Vertreibungspolitik Milosevics thematisiert werden darf, entweder völlig zerstritten oder diese Diskussion zumindest nicht befriedigend zu einem Ende führen konnten. Ergebnis war vielerorts ein problematisches Bild der Antikriegsbewegung, welches die Medien noch dazu in manchen Fällen als gewollten Schulterschluß der KriegsgegnerInnen mit serbischen NationalistInnen diffamierten. Daß dieser Eindruck, verbunden mit der auch tatsächlich oft genug ungenügenden Behandlung der Vertreibungsthematik in von autoritär-linken Organisationen dominierten Antikriegsbündnissen, potentielle KriegsgegnerInnen aus bürgerlichen Kreisen oder enttäuschte Grünen-WählerInnen davon abhielt, den Schritt auf die Straße zu machen, liegt auf der Hand – wenngleich das nicht entscheidend für die zahlenmäßig geringe Stärke der KriegsgegnerInnen gewesen sein dürfte.

Ein weitaus gewichtigerer Grund für die weitgehende Kriegszustimmung als diese internen, den binnenorganisatorischen Zustand der Antikriegsbündnisse betreffenden Überlegungen ist zweifellos der zunehmende Nationalismus innerhalb der BRD, der sich in den Köpfen großer Teile der Bevölkerung auf verschiedene Weise widerspiegelt. Zum Beispiel als Bereitschaft, sich selbst als Teil einer ordnungschaffenden neuen Weltmacht zu betrachten, noch dazu mit dem beruhigenden Gefühl, im Gegensatz zur Nazi-Zeit diesmal auf der Seite sowohl der »Richtigen« wie der Sieger zu stehen, oder sich mindestens nicht vorstellen zu können, daß auch die BRD wie jeder Nationalstaat dazu in der Lage ist, imperialistische Interessenpolitik mit humanitären Motiven nur ideologisch zu bemänteln. Wenn in mancher Beziehung die Situation der Friedensbewegung der achtziger Jahre, so kritikwürdig sie in vielen Punkten sein mag, mit der jetzigen Situation verglichen wird, wird die Veränderung offenbar: die Denkweise großer Teile der Bevölkerung ist in den neunziger Jahren, genauer gesagt seit der Vereinigung 1990 zur neuen Weltmacht Deutschland, umgekehrt worden. In den achtziger Jahren konnten Gewaltfreie und Libertäre noch von einem tendenziell pazifistischen Grundkonsens ausgehen. »Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!« war als Utopie so verbreitet, daß ein den jugoslawischen Guerilla-Krieg mythologisierendes Buch von Paul Parin über seine Kriegsbeteiligung bei den Tito-Partisanen unter dem Titel »Stell dir vor, es ist Krieg, und wir gehen hin !« noch wie eine Provokation behandelt wurde. Die Grundsätze »Nie wieder Faschismus ! Nie wieder Krieg !« wurden als gleichberechtigt und sich gegenseitig bedingend angesehen.

Konsequenterweise führte Heiner Geißlers Satz, der Pazifismus habe Auschwitz überhaupt erst möglich gemacht, noch zum Skandal, für den nicht die Friedensbewegung, sondern Geißler sich rechtfertigen mußte. Geißlers Diktum gilt dagegen heute als common sense und die Gegeneinanderstellung der beiden Grundsätze »Nie wieder Krieg !« und »Nie wieder Auschwitz !« gehörte zu den zentralen ideologischen Legitimationsmustern des Krieges gegen Jugoslawien, ausgesprochen durch Außenminister Fischer. Daß die realen Opfer des Nationalsozialismus, SerbInnen und Roma, nach dem Einmarsch der NATO aus dem Kosovo mit passiver Zustimmung der NATO-Armeen oder mindestens ohne konsequente Gegenwehr vertrieben wurden, ist ein Treppenwitz dieser ideologischen Kriegsrechtfertigungsgeschichte.

Auch die weithin geteilte, im wesentlichen blockübergreifende, tendenziell neutralistische Tendenz damals wurde in den neunziger Jahren von den Herrschenden erfolgreich immer wieder als »Sonderweg« diffamiert und als solcher in Beziehung zum nationalsozialistischen »Sonderweg« gesetzt – eine ganz absurde historische Parallelisierung. Während der »Sonderweg« der Nazis beispielsweise tatsächlich zum Austritt aus dem Völkerbund führte, umfaßte die Blockfreienbewegung während des Kalten Krieges immerhin die Mehrheit aller UN-Mitglieder. Wenngleich die neutralistische Tendenz im Sinne einer Staatenpolitik (etwa bei der von kommunistischen Gruppen propagierten Forderung »BRD raus aus der NATO« im Gegensatz zur gewaltfrei-anarchistischen Forderung »Auflösung der Militärblöcke«) keineswegs frei von nationalistischen Gefahren und insofern tatsächlich ein Einstiegstor für rechtsextreme Gruppen war, so war diese Gefahr trotzdem bekämpfbar: die blockübergreifende, neutralistische Tendenz umfaßte immer gleichzeitig die Ablehnung einer Weltmachtrolle der BRD und über diese defensive Einstellung blieb die Möglichkeit einer kulturellen Hegemonie antimilitaristischer und pazifistischer Gruppen über rechte Gefahren einer Instrumentalisierung erhalten. Heute jedoch, mit der Emanzipation der vereinigten Weltmacht BRD innerhalb der NATO, die sich nun nicht mehr nur diplomatisch wie noch Anfang der neunziger Jahre mit der Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien und Slowenien, sondern auch militärisch vollzieht, bedeutet Schröders Rede von einer Ablehnung eines »Sonderwegs« gerade diesen: einen nationalistischen Sonderweg Deutschlands zur wirtschaftlichen, politischen und militärischen Weltmacht. Die zweite oder dritte Rangstellung innerhalb der NATO, einer Spezialorganisation, der auch nach der Osterweiterung nur 19 Nationalstaaten der Welt angehören, ist in jeder Beziehung ein »Sonderweg«, vor allem im Vergleich mit allen anderen UN-Mitgliedsstaaten. Doch die Absurdität der Rede von der »Staatengemeinschaft«, innerhalb derer sich die BRD nun unwiderruflich befände, wird von einer Öffentlichkeit nicht mehr durchschaut, die den Staat im Kopf trägt. Was bleibt ist ein weithin getragenes Gefühl der Berechtigung der BRD zur weltpolitischen Rolle einer Ordnungsmacht. In diesem nationalen Selbstbewußtsein einer Weltordnungsmacht gedeiht neuer Rechtsextremismus ganz von selbst, und zwar völlig gleichgültig davon, ob rechtsextreme Parteien nun für oder gegen den Krieg eintreten: jede stolzgeschwellte Brust nach einem militärisch erfolgreichen Einsatz der Bundeswehr ist eine potentielle Nachwuchskraft für die Rechtsextremen, so daß befürchtet werden muß, daß mit den Weltmachtambitionen der BRD auch der innenpolitische Rechtsextremismus ansteigen wird.

Schon jetzt, nach dem Krieg, können kulturelle Errungenschaften des radikalen Antimilitarismus kaum noch so selbstbewußt vorgetragen werden wie vorher: deutsche Soldaten sind nun zwar, wie immer prognostiziert, ganz real zu Mördern geworden, die Aussage »Soldaten sind Mörder !« wird bei Rekrutengelöbnissen gleichwohl schwieriger öffentlichkeitswirksam vorgetragen werden können, das Abseitige und Minoritäre der »Störer« dagegen in den Medienberichten eher herausgestellt. Die rechtsextremen Affinitäten vieler Rekruten der Bundeswehr werden zukünftig wieder stärker verharmlost werden.

Und auch die unmittelbare Verbindung von Kriegsführung mit Verbrechen, deren Thematisierung in der Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht weite Teile der Bevölkerung erreichte, wird kaum als Argument gegen kommende Kriege der Bundeswehr taugen (was von den Machern offenbar auch gar nicht beabsichtigt war), sondern eher rückblickend auf die spezielle Armee »Wehrmacht« beschränkt reflektiert werden. Gleichzeitig können sich viele Menschen kaum noch vorstellen, daß die BRD in solchen Kriegen andere als rein menschenrechtliche, im Grunde altruistische Interessen haben könnte.

Die Gefahr, daß die militärische Emanzipation der BRD innerhalb der NATO dazu dienen könnte, dereinst auch innerhalb einer von der BRD kontrollierten europäischen Armee – oder gar einseitig national – militärische Alleingänge durchzuführen, wird von einem solchermaßen konditionierten Bewußtsein überhaupt nicht wahrgenommen.

Vordringliche Aufgabe: Schaffung einer neuen libertären Kultur

So sieht eine knappe Skizze der gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen für die Herausforderung Krieg aus, der sich gewaltfreie, antimilitaristische und anarchistische Gruppierungen in der BRD am Ausgang des alten Jahrhunderts gegenüber sehen. Der hier notwendige Realismus der Lageeinschätzung muß jedoch nicht in Hoffnungslosigkeit münden. Daß bei diesem historischen Einschnitt einer erstmaligen Bundeswehrbeteiligung an einem Krieg der NATO keine soziale Protestbewegung entstand, muß nicht bedeuten, daß dies nun immer so sein wird. Jede Dynamik, jeder Einschnitt innerhalb des Krieges hätte Brüche entstehen lassen können, anhand derer Protestpotential hätte aktiv werden können: schon die Beteiligung der Bundeswehr an einem eventuellen Bodenkrieg hätte ein solcher Bruch sein können. Die Desillusionierung über die rot-grüne Regierungspolitik ist noch nicht in direkte Aktion umgeschlagen, ihr reales Vorhandensein und die Abkehr vieler von offizieller Politik, die noch vor dem Krieg einige Hoffnungen in die rot-grüne Regierung setzten, ist jedoch kaum zu bestreiten. Die Entstehungsbedingungen sozialen Widerstands sind unabsehbar und kaum prognostizierbar – was sicher von Vorteil ist, denn dadurch sind auch herrschaftliche Kontroll- und Präventionsstrategien prinzipiell auch nur beschränkt wirksam, so sehr sie beim Jugoslawien-Krieg auch gegriffen haben mögen.

Was die Ausgangsposition für gewaltfreie, radikal-antimilitaristische, antisexistische und anarchistische Gruppen nach diesem Krieg so schwierig macht, ist das Fehlen einer tragfähigen libertären Kultur in der BRD. Zwar entstand nach 1968 ein über mehrere Jahrzehnte tragfähiges alternatives, in großen Teilen libertäres Milieu, doch die mit ihr in Verbindung stehende anarchistische Bewegung war immer auf wenige Gruppen, Organisationen und Zeitungen mit begrenzter Breitenwirkung beschränkt. Auf diese Weise konnte selbst zu Hochzeiten libertär und gewaltfrei beeinflußter sozialer Bewegungen in den siebziger und achtziger Jahren, insbesondere der Anti-AKW-Bewegung, keine mit der libertären Tradition etwa Frankreichs oder Spaniens vergleichbare anarchistische Kultur entstehen. Das Wissen um Geschichte, Utopien, reale Möglichkeiten und Erfahrungen der anarchistischen Tradition ist im deutschen Sprachraum noch heute kaum verbreitet. Ohne libertäre Kultur ist jedoch jede soziale Bewegung dazu verurteilt, autoritären Losungen zu folgen oder Integrationsdynamiken durchzumachen, wie das die Massenbewegung in der DDR nach 1989 in rasendem Tempo als Vereinigungsprozeß erfahren hat. Ohne eine Grundlegung durch libertäre Kultur lassen sich auch freiheitliche Errungenschaften sozialer Bewegungen wie der Frauen-, der Ökologie- oder der Friedensbewegung nicht auf Dauer sozial, das heißt in den Denk- und Verhaltensweisen der Menschen, stabilisieren. Ohne libertäre Kultur schließlich lassen sich innerhalb sozialer Gegenbewegungen auch nicht dauerhaft Dämme gegen nationalistische Tendenzen errichten.

»Anarchie« hieß nach dem Krieg gegen Jugoslawien für die meisten Menschen im deutschsprachigen Raum ein Zustand im Kosovo direkt nach dem Einrücken der NATO-Armeen, in welchem die serbische Minderheit und die Roma-Minderheit Freiwild der Rache nehmenden UÇK-Kämpfer oder zurückkehrender Kosovo-AlbanerInnen war. »Anarchie« wurde von den herrschenden Medien erfolgreich ein Zustand genannt, der das gegenseitige Morden und Vertreiben aufgrund fehlender Justiz-, Gefängnis- und Polizeieinheiten beschrieb. Dabei war diese »Anarchie« genannte Situation nichts anderes als voll und ganz Ergebnis staatlicher und militärischer Kriegspolitik. Diese vollkommene Verdrehung jedes Verständnisses von Anarchismus im Alltagsbewußtsein muß zum Ausgangspunkt einer Neuformulierung anarchistischer Bewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden.

Die pazifistischen, gewaltfreien und anarchistischen Gruppen stehen also wieder ganz am Anfang, was die Ausgangsbedingungen betrifft. Sie stehen allerdings nicht am Anfang, was den Erfahrungsschatz betrifft, den ihre sozialen Kämpfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angehäuft haben. Von diesem Erfahrungsschatz zehrend müssen Begriffe wie »Krieg« auf ihre Gewaltförmigkeit hin wieder öffentlich denunziert werden: in den neunziger Jahren sind die Kategorien Krieg und Verbrechen systematisch getrennt worden. Um Krieg wieder führbar zu machen, wurde alles Negative von ihm genommen und ihm gegenübergestellt: »ethnische Säuberung«, »Vergewaltigung« (das angebliche Besitz»Recht« der Männer siegreicher Armeen), schließlich Vertreibung wie im Kosovo-Krieg. Der Krieg gerät auf diese Weise in einen Nimbus der Reinheit und Harmlosigkeit, der jeder Beschreibung spottet. Schließlich wurde er von BuchautorInnen wie zum Beispiel Cora Stephan gar als simples »Handwerk« beschrieben.6

Nur vor diesem ideologischen Hintergrund erscheint der Krieg als handhabbares Mittel der Politik und der Diplomatie, als neutrales Werkzeug, das eingesetzt werden kann oder auch nicht – selbstredend nur zu »guten« Zwecken. Hier glichen sich die Inhaber der Staatsgewalt und die bewaffneten »RevolutionärInnen« schon immer in ihrer Ideologie vom »gerechten Krieg«. Und insofern verstehen sich auch Leute wie Fischer, Trittin, Bütikofer als konsequent und legitimeren mit dieser Ideologie ihr Selbstverständnis, vor sich und vor ihrer eigenen Biographie. Jedem prinzipiellen Kriegswiderstand wird so der Garaus gemacht. Wenn dann die Brutalitäten des Krieges offenbar werden, ertönt der kollektive Schrei der Bevölkerung nach einer »Rückkehr zur Politik« – und bleibt so doch völlig in staatlichem Rahmen und im Rahmen der Kriegsziele.

Aufgabe einer gewaltfrei-anarchistischen Kultur wäre es hingegen, Staat und Krieg in ihrer gegenseitigen Bedingtheit zu sehen, alle Staaten und jede Staatspolitik als notwendigerweise zu Kriegen tendierend zu beschreiben und den Krieg prinzipiell als das Verbrechen zu denunzieren, das alle anderen Kriegsverbrechen schon miteinschließt. Schon um zu existieren definiert der Staat ein Territorium, innerhalb dessen er das Monopol aller Gewaltausübung beansprucht. Um dieses Monopol als Herrschaft gegen alle oder große Teile der Bevölkerung durchzusetzen, ist zunächst die Armee, später die Polizei geschaffen worden. Kein Staat kann auf Dauer ohne Armee existieren, die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg ist das beste Beispiel dafür. Meist entstehen Staaten erst durch Kriege, separatistische Armeen sind im Kern vorstaatliche Organisationen – wofür die Genese der neuen Nationalstaaten im Süden Rußlands nach 1989 oder der neuen Staaten in Ex-Jugoslawien eine Fülle an Anschauungsmaterial bieten. Jeder Staat existiert durch Abgrenzung gegen andere Staaten, wendet sich gegen andere Staaten und bildet dafür die Ideologie des Nationalismus aus. Jede Armee tendiert dazu, eingesetzt zu werden. Nationalistische Staatspolitik führt daher mit Notwendigkeit zur Benutzung des staatlichen Mittels Militär, um eigene Interessen gegen die Interessen anderer Staaten durchzusetzen. Das ist der innere Zusammenhang von Staat und Krieg.7 Dabei kann nicht übersehen werden, daß nicht nur die BRD auf der Welt Kriege führt, und daß unter der Maßgabe der Denunziation deutscher Kriegsinteressen die Frage berechtigt ist, wie denn die Bürgerkriege auf dieser Welt beendet werden können. Dem eher völkerrechtlichen Prinzip »Kein Staat darf gegen einen anderen Krieg führen« – eine Unmöglichkeit, weil bereits die Existenz von Staaten den Krieg gegeneinander bedingt –, muß in jedem Fall das anarchistische Prinzip »Kein Staat hat ein Recht zur Unterdrückung seiner eigenen Bevölkerung« beiseite gestellt werden, um den Widerstand gegen NATO-Krieg und -Intervention nicht ins Fahrwasser falscher und blutiger Solidarität zu rücken. Wichtig ist hier gerade von anarchistischer Seite aus, den Gegner der NATO, in diesem Fall wahlweise den Staat Jugoslawien oder den serbischen Nationalismus, weder zu verteidigen noch ihn in Formen eines negativen Nationalismus als monolithischen Block wahrzunehmen und damit nur die westliche Sicht der Medien zu reproduzieren, sondern als differenzierte Gesellschaft, in der auch weniger oder mehr antikriegerische und nichtnationalistische Ansätze vorhanden sind. Immerhin widerstanden die Belgrader »Frauen in Schwarz« die ganzen neunziger Jahre hindurch jeglichem nationalistischen Druck, protestierten gegen alle serbischen Kriege und unterstützten Deserteure aus allen kriegführenden Staaten. Große Teile der serbischen und jugoslawischen Bevölkerung entzogen sich dem Militär und desertierten, die Schätzungen gehen bis 1995 bis hin zu 300.000 Menschen, die sich den Rekrutierungen und Offensiven der jugoslawischen Armee entzogen. Auch im Kosovo-Krieg war die Zahl der Rekrutenverweigerung enorm.8 Das ist keine Garantie gegen die Durchführung von Vertreibungen, doch die Desertion ist in Bürgerkriegen ein nicht zu vernachlässigender sozialer Machtfaktor. Dabei brauchen die Motive für Desertion oder die Senkung der Kampfmoral nicht immer ethisch begründet zu sein: in den durch großangelegte Plünderungen gekennzeichneten Bürgerkriegen zerstörter und ruinierter Ökonomien der neunziger Jahre9 gab es auch vielerlei Formen der Soldatenmeutereien aufgrund ausbleibender oder zu geringer Bezahlung der Soldaten. Zusammen mit ethisch begründeten Verweigerungen, den Initiativen von Soldatenmüttern – die in Kriegen immer wieder eine Rolle spielen –, und diesen eher materiell begründeten Desertionen spielt die Kriegsdienstverweigerung in eher mit vormodernen Mitteln geführten Bürgerkriegen nach wie vor eine entscheidende Rolle, ganz im Gegensatz zu den postmodern geführten Technokriegen der kapitalistischen Metropolenstaaten.

Die solidarische Unterstützung von DeserteurInnen in Kriegsgebieten hat sicher ihre Grenzen und es ist fraglich, ob mit dieser Form der Solidarität die brutalen Vertreibungen des jugoslawischen Staates verhindert worden wären. Wenn hier die Grenzen gewaltfrei-anarchistischer Strategien eingeräumt werden, müssen allerdings gleichzeitig die angeblichen »Erfolge« der militaristisch-nationalistischen Strategien denunziert werden: die NATO-Bombardements haben sicher zur Legitimierung und Intensivierung der Vertreibungen in den ersten Wochen und zur Schaffung einer serbisch-nationalistischen Front in Jugoslawien beigetragen, und die in den Kosovo nach den Bombardements eingerückten NATO-Armeen konnten oder wollten die Vertreibung der serbischen Minderheit und der Roma durch die zurückgekehrten AlbanerInnen nicht verhindern. Das Ergebnis der militärischen »Konfliktlösung« war in jedem Fall nationalistisch und ein Desaster: entweder ein serbischer Kosovo ohne Kosovo-AlbanerInnen oder ein albanischer Kosovo ohne SerbInnen und andere Minderheiten. Angesichts dieser militärischen »Erfolge« sind die Grenzen gewaltfrei-anarchistischer Strategien allerdings leichter zu verkraften.

Bei einer Rundreise serbischer Kriegsdienstverweigerer während des Krieges gegen Jugoslawien sprach einer der serbischen Antimilitaristen in einem privaten Gespräch mit örtlichen GraswurzelrevolutionärInnen mit Begeisterung von der massenhaften Oppositionsbewegung gegen Milosevic in Belgrad im Jahre 1997. Die antinationalistischen und kriegsgegnerischen Gruppen Belgrads hätten seiner Meinung nach einigen Einfluß auf den Charakter (viel Witz, Musik und Spaß innerhalb des Widerstands) und die Verlaufsform (eher gewaltfrei) des Widerstands gehabt. Und dann erzählte er von einer Demonstration mit mindestens 300.000 SerbInnen im Stadtzentrum Belgrads, bei der gerade die Meldung eintraf, daß am selben Tag im Belgrader Gefängnis ein Kosovo-Albaner von serbischer Polizei zu Tode geprügelt worden war. Als das den 300.000 Demonstrierenden mitgeteilt worden war, riefen Redner zu einer Schweigeminute für den ermordeten Kosovo-Albaner auf – und 300.000 SerbInnen schwiegen in Belgrad im Gedenken an einen Kosovo-Albaner ! Das war 1997 noch möglich. Und dieser Einfluß nichtnationalistischer Gruppen auf die serbische Opposition, ihre direkten Kontakte mit Kosovo-AlbanerInnen, ist mit den NATO-Bomben zerstört worden. Das war der Grund für ihren Widerstand gegen die NATO-Bombardements. Es sind nun auch gerade die nicht-nationalistischen Oppositionsgruppen, die sich am schwersten von den Rückschlägen des Krieges erholen können. Es ist damit zu rechnen, daß diese von ihnen mit beeinflußte solidarische Verhaltensweise vieler SerbInnen mit Kosovo-AlbanerInnen auf Jahrzehnte hinaus zerstört und zerbombt ist. Im übrigen und als Hinweis für die Antikriegsinitiativen innerhalb der BRD: gerade die serbischen Exilgemeinden in der BRD sind von den serbischen radikalen Antimilitaristen auf ihrer Rundreise als am stärksten nationalistisch, zum größten Teil nationalistischer als die SerbInnen in Jugoslawien selber, beschrieben worden. Diese Antimilitaristen und Nationalismuskritiker sind auch während der Rundreise von serbischen NATO-GegnerInnen als »Vaterlandsverräter« bezeichnet und sogar körperlich bedroht worden – ein Grund mehr, nicht einfach »den« jugoslawischen Staat gegen die NATO-Angriffe zu verteidigen. Nicht einem Staat gehört libertäre Solidarität, sondern immer bestimmten Strömungen, Gruppen, Menschen. Nur so lassen sich Nationalismen bekämpfen.10

Es ist Aufgabe libertärer Kultur und auch der anarchistischen Zeitungen wie zum Beispiel der Zeitung Graswurzelrevolution, über solche libertäre, gewaltfreie, nichtnationalistische Minderheitengruppen wie diese Belgrader Kriegsdienstverweigerer oder die »Frauen in Schwarz« zu berichten, sie bekannt zu machen, sie zu unterstützen. Der Krieg gegen Jugoslawien zeigte, daß in den herrschenden Medien und in der bürgerlichen Presse über diese Gruppen nicht berichtet wurde. Nur das politische Überleben solcher Gruppen und die Perspektive der Verbreiterung ihres Einflusses birgt in sich die Chance zu einer gewaltfreien, libertären, nichtnationalistischen und weder von Haß noch Rache gezeichneten gesellschaftlichen Zukunft im 21. Jahrhundert, hier wie in Jugoslawien. Darin liegt die Aufgabe libertärer Gruppen und Medien: libertäre und gewaltfreie Kultur zu verbreiten und für Gegenöffentlichkeit zu sorgen, gerade vor und in Zeiten des Krieges.

Harold the Barrel

Anmerkungen

  • 1 Vgl. dazu Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992

  • 2 Vgl. Jaques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa, Frankfurt/M. 1995

  • 3 Vgl. zum Zeitpunkt der Entscheidung und den daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen Philippe Burrin: Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord, Frankfurt/M. 1993

  • 4 Viele Erfahrungen mit Boykottstrategien in Arbeitskämpfen haben MitarbeiterInnen der Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden gesammelt, Informationen zu bestellen über: Uli Wohland, c/o Werkstatt für gewaltfreie Aktion, Baden, Karlstor 1, 69117 Heidelberg

  • 5 Vgl. Peter Döge: Die Erforschung der Männlichkeit. Neue wissenschaftliche Ansätze in der Debatte über Geschlechterdemokratie und was Männer dazu beitragen können, in: Frankfurter Rundschau, 31.7.99, S. 9

  • 6 Vgl. die Kritik: Modernisierung des gerechten Krieges. Cora Stephan propagiert den Krieg als »Handwerk«, in GWR 236, S. 3

  • 7 In der GWR wurde dieser Zusammenhang mehrfach dargelegt, ausführlich vgl. auch Knut Krusewitz: Statt und Krieg in: Wege des Ungehorsams, Jahrbuch I für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik und Kultur, Kassel 1984

  • 8 Vgl. Rudi Friedrich, Connection e.V.: Jugoslawien: Desertion und Kriegsdienstverweigerung. Informationsblatt anläßlich der Rundreise von Darko Kovacev und Bojan Aleksov, 29.5.99.

  • 9 Vgl. dazu detailliert François Jean, Jean-Christophe Rufin (Hrsg.): Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg 1999 und auch Ernst Lohoff: Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung. Bad Honneff 1996

  • 10 Genau dies, die Solidarität mit dem jugoslawischen Staat, forderten aber sogar selbst erklärte »Antinationalisten« wie etwa Konkret-Redakteur Jürgen Elsässer. Sie beschrieben die antinationalistische Kritik auch an serbischen NationalistInnen während der Antikriegsaktionen als »Antinationalismus der dummen Kerls«, z.B. im Konkret-Streitgespräch in: Nr. 7/99. M. E. ist Elsässer daher kein Antinationalist, sondern nur ein »dummer Kerl«.

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