Junge Welt 22.07.1999

Deutschland wiedergutgelobt« - phantasievolle Proteste beim Rekrutengelöbnis

Da strahlte das Kanzlerauge am Dienstag: Kaum hoben die Rekruten feierlich unter Trommelwirbel die Hände zum Eide, hob sich auch des Kanzlers Blick. Denn aus allen Ecken des Platzes sprangen barbusige Frauen. Schröder, der kürzlich bei einer Protestaktion von Sparmaßnahen betroffener Bauern, die demonstrativ ihre Hemden ausgezogen hatten, geklagt hatte, daß es offenbar keine Bäuerinnen gebe, die von den Maßnahmen betroffen seien, mußte sich ziemlich anstrengen, böse zu gucken, als die Feldjäger die nur mit Schlüpfern und Schuhen bekleideten Frauen über den Platz hetzten. Darüber hinaus war es mehreren Mitarbeitern des Büros für antimilitaristische Maßnahmen und Jungdemokratinnen gelungen, sich inkognito Abbildung unter die geladenen Gäste zu mischen und die Veranstaltung auf ihre Weise nachhaltig zu stören.

Rund zweihundert Meter vom Bendlerblock entfernt hatten sich unmittelbar vor Beginn der Vereidigung mehrere hundert Demonstranten auf dem Matthäikirchplatz zur Protestkundgebung versammelt.

»Deutschland wiedergutgelobt« lautete das Veranstaltungsmotto der mehr als 20 Gruppen und Organisationen, die gegen den Militarismus in der Tradition der Nazi-Wehrmacht protestierten. Nachdem der PDS-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke die Geschichtsfälschung durch Fischer-Scharping-Schröder gegeißelt hatte, die ihren verbrecherischen Angriffskrieg gegen Jugoslawien ausgerechnet mit den Verbrechen der Nazis gerechtfertigt hatten, verlas der Kabarettist Dr. Seltsam die bei der letzen Rekrutenvereidigung gehaltenen »Gelöbnixrede« des derzeitigen Umweltministers Jürgen Trittin. Der hatte im vergangenen Jahr noch radikale Worte gegen die denkwürdige Veranstaltung der Militärs gefunden. Worte, an denen man nach Auffassung von Dr. Seltsam keine Abstriche machen müsse. Weil Trittin es diesmal ablehnte, seine Ansichten zum Gelöbnis zu äußern, beendete der Kabarettist die Rede Trittins mit einem Grußwort: »Jürgen, du Arschloch«.

Jutta Ditfurth wies in ihrem Redebeitrag darauf hin, daß mit der Erinnerung an die adelige Offiziersclique vom 20. Juli, die bis auf wenige Ausnahmen Hitlers Völkermordpläne und die Massenmorde an Juden in KZ weitgehend mitgetragen hatten, der bürgerliche und kommunistische Widerstand systematisch verdrängt werden soll. Deren Widerstand zu einer Zeit, als die militärische Niederlage Deutschlands absehbar war, beruhte lediglich auf der Furcht um die eigene Zukunft. »Nach der Landung der Alliierten in der Normandie ging ihnen der Arsch auf Grundeis!« sagte die Ex-Grüne und verwies darauf, daß in diesem archaischen, nationalistischen Ritual der öffentlichen Vereidigung Rekruten auf ihre Bereitschaft eingeschworen werden, für Deutschland zu erobern und zu morden.

Nach Abschluß der Redebeiträge veranstalteten die Kundgebungsteilnehmer lautstarke Trillerpfeifen-Einlagen, die dank der akustisch günstigen Ausrichtung der Sigismundstraße die Gelöbnisveranstaltung zu einem unüberhörbaren Ereignis machten. Immer wieder riefen die Demonstranten »Mörder-Mörder« in Richtung der feierlich aufgereihten Soldateska. Das ging besonders den Polizeieinheiten gegen den Strich, die ankündigten, die Tucholsky-Zitierer aus der Menge zu holen und festzunehmen. Das veranlaßte die Demonstranten ihrerseits zu noch lauterem »Mörder-Mörder«-Rufen. Als auch vom Lautsprecherwagen aus auf die Tätigkeit von Soldaten im allgemeinen und die von Bundeswehrsoldaten seit dem Jugoslawien-Krieg im speziellen hingewiesen wurde, war die Geduld der polizeilichen Demokratiehüter endgültig erschöpft und der Einsatzleiter veranlaßte eine Erstürmung des Wagens.

Damit bewegte er sich zwar außerhalb des Gesetzes, zumal verschiedene Gerichte immer wieder entschieden hatten, daß sich auch die Bundeswehr öffentliche Proteste gefallen lassen müsse, aber der vorauseilende Gehorsam uniformierter Staatsdiener wiegt schwerer als das Geschwätz irgendwelcher Richter. Bei dem brutalen Einsatz, bei dem zahlreiche Kundgebungsteilnehmer durch Schläge und Tritte verletzt wurden, kam es zu insgesamt sechzig Festnahmen. Sechsundvierzig Demonstranten wurden vorläufig in Gewahrsam genommen und erkennungsdienstlich behandelt.

Unter anderem stürmten die Polizisten auch eine Wohnung, deren Inhaber ein Transparent mit den Worten »Soldaten sind Mörder« aus dem Fenster gehängt hatte. In der Nacht zum Mittwoch wurde eine weitere Wohnung von Gelöbnisgegnern von der Polizei durchsucht, weil die Betroffenen gegen das Sprengstoffgesetz verstoßen haben sollen.

Andere Kundgebungsteilnehmer umgingen das mittlerweile inkriminierte Zitat, indem sie die Parole »Tucholsky hat recht« zeigten oder Transparente mit der Aufschrift »Soldaten sind Gärtner. Der Mörder ist immer der Gärtner« bei sich führten.

Peter Murakami/AP-Foto: Fritz Reiss


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