Berlin, Wilhelmstrasse 9. Ein altes Gebäude verteidigt sich erfolgreich gegen die moderne Stadtentwicklung Kreuzberg und bildet einen starken und etwas ironischen Kontrast zu der neuen SPD-zentrale direkt gegenüber auf der anderen Strassenseite. Passanten können einen kurzen Blick auf die Grafittis und Zeichnungen, die die Wände zieren, werfen. Diese sind Zeugnis der aufregenden Geschichte des Hauses und dessen wichtige Rolle für Menschen, die auf der Strasse leben und Menschen, die einen alternativen Lebensstil gewählt haben. Und jetzt hat das Tommy Weissbecker Haus für zwei Wochen Ende August etwas Neues zu seiner Vielfältigkeit hinzugefügt. Junge Freiwillige aus ganz Europa sind zusammengekommen, um an einem Workcamp teilzunehmen und somit einen Beitrag zu den sozialen Projekten des Hauses zu leisten. Tommy Weissbecker Haus
SCI Workcamp - 21/08/2000 - 3/09/2000
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Inhalt
1. Geschichte des Tommy Weissbecker Haus
Das Tommy-Weissbecker-Haus ist in den 70er Jahren im Zuge der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung entstanden. Bis 1969 wurde das Gebäude von der Firma Eternit für die Unterbringung von Gastarbeitern genutzt und stand seitdem leer. Zu dieser Zeit dominierten hier mitten im heutigen Stadtzentrum Berlins, nahe der ehemaligen Mauer, Kriegsruinen und Freiflächen das Bild. Als es im März 1973 besetzt wurde, war diese Ecke West-Berlins gegenüber der Ost-Berliner Friedrichstrasse noch völlig uninteressant.
Am Anfang stand die Besetzung des eigentumslosen und leerstehenden Hauses in der Kreuzberger Wilhelmstrasse durch obdachlose Jugendliche und TrebegängerInnen. In der Zeit der Unruhen der 70er Jahre war es häufiges Objekt polizeistaatlicher Beobachtungen und Kontrollen. Es gehört als zweites besetztes Haus der Stadt neben dem Georg von Rauch-Haus und dem selbstverwalteten Jugendzentrum Drugstore zu den von jugendlichen TreberInnen Anfang der 70er Jahre selbstgeschaffenen und durchgesetzten Lebensräumen.
Das TWH ist wie die anderen Projekte aus der Kritik an den Heimen und der damaligen Jugendpolitik als Alternative zu Heim oder Knast entstanden und wurde mit Hilfe einer breiten solidarischen Bewegung von unten und der außerparlamentarischen Oppostion durchgesetzt.
Um die Vertragsfähigkeit zu verbessern, wurde der SSB e.V. (Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin e.V.), dem schon einige der Treberinnen angehörten, als Trägerverein gewählt. So wurde am 02.03.1973 ein zunächst auf ein Jahr befristeter Nutzungsvertrag mit dem Senat unterzeichnet. Der am darauffolgenden Tag erfolgte Einzug war zunächst nur auf die ersten beiden Etagen beschrängt, die Nutzung der beiden oberen Geschosse wurde aus baurechtlichen Gründen untersagt.
Die Jugendlichen des Tommy-Hauses waren in den 70er-Jahren Teil einer Jugendbewegung, die sich zunehmend politisierte und die kapitlistische Gesellschaft in allen Bereichen in Frage stellte.
Das Haus ist nach Thomas Weissbecker, einem organisierten Anarchisten, der genau 1 Jahr vor der Besetzung in der Augsburger Fußgängerzone von Polizisten erschossen worden war, benannt.
Es ist damals wie heute Teil der Berliner Subkultur und des linken Widerstands in der Stadt. Nachdem das Haus jahrelang von der Polzei durchsucht und teilweise zerstört wurde, um das Projekt zu zerschlagen, bekam es schließlich doch langfristige Verträge. Der vorläufige Höhepunkt der Hausuntersuchungen fand mit der Durchsuchung am 05.03.1975 im unmittelbaren Zusammenhang mit der Freilassung von Peter Lorenz statt. Dabei entstand ein Sachschaden von etwa 40.000 DM und man mußte praktisch wieder von null anfangen. Eine Schließung wegen baulicher Mängel konnte nur durch Proteste der Öffentlichkeit verhindert werden. Zudem bezahlte der Senat nach Klagedrohung eine Entschädigung von 10.000 DM. Wiederholt wurden BewohnerInnen kriminalisiert. Als deutlich wurde, dass dies nicht fruchtete, versuchte der Senat, das Tommyhaus als buntes Alternativprojekt zu integrieren und zu neutralisieren.
Das Haus ist seit nunmehr 28 Jahren selbstverwaltet und liegt heute mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt, gegenüber der neuen SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus. Es wird schon jetzt von Teilen der Berliner Politik als Sicherheitsrisiko eingestuft.
2. Die Aktivitäten im Haus
Viele Räume im Haus stehen für alle möglichen Arten von sozialen und gemeinschaftlichen Projekten zur Verfügung: das Cafe "Linie 1" ist ein Treffpunkt für die Musikundergroundscene in Berlin; die "Kiez Cuisine" stellt Essen für die Gemeinschaft zur Verfügung (TreberInnen im Haus essen kostenlos oder zu einem reduzierten Preis); Es gibt auch Räume wo Musikbands proben, eine Sport- und Tanzetage und einen Veranstaltungssaal, in dem Konzerte, politische Veranstaltungen, Filmaufführungen und Partys stattfinden.
3. SCI workcamp
Menschen von überall aus Europa, aus Portugal, England, Deutschland, Italien, Finnland, Spanien und der Schweiz haben sich im TWH getroffen und versucht, die verschiedenen Projekte im Haus durch gemeinschaftliche Arbeit zu unterstützen; auch um auf einer generellen Ebene zu versuchen und zu zeigen, daß eine Kooperation zwischen Menschen von verschiedenen Ländern möglich ist.
Die Arbeit bestand aus dem Aufbau eines Trebezimmers aus einer kleinen Abstellkammer und dem Überdachen eines Schuppens im Garten. Bei diesen Aktivitäten wurden die Freiwilligen von zwei Campleitern, von zwei Treberinnen und den Leuten, die im Haus wohnen, unterstützt.
Das Thema war Obdachlosigkeit/Armut und Selbsthilfe/Selbstorganisation von Ausgegrenzten. Ermöglicht hat das Projekt der SCI, eine Freiwilligen-Friedens-Organisation, gegründet 1920, deren Ziel es ist, die Zusammenarbeit von Menschen aus unterschiedlichsten Ländern zu ermöglichen. Jedes Jahr organisiert SCI eine Vielfalt von Camps mit unterschiedlichen Themen, wie Armut, Frieden, Anti-Faschismus, Ökologie und Solidarität mit der "Dritten Welt", sowie verschiedene kulturelle, soziale und Frauen/Mädchen-Projekte (women only projects).
Presseartikel: 5.9.2000